„Die Probleme Brasiliens sind lösbar“

28.7.2017 – Interview mit Antony P. Mueller, Professor der Volkswirtschaftslehre an der brasilianischen Bundesuniversität UFS und Mitglied des  Mises Institutes Brasilien.

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Antony P. Mueller

Herr Mueller, Brasiliens Ex-Präsident Lula wurde kürzlich wegen Korruption zu neuneinhalb Jahren Haft verurteilt. Geht es korrupten Politikern in Brasilien nun an den Kragen?

Ja, das kann man wohl sagen. Wenn die Justiz es schafft, die schlimmsten Gestalten auch rechtskräftig zu verurteilen und diese lange genug sitzen, dürfte das für nachfolgende Politiker eine gute Lektion werden. Die Unruhe, die derzeit das ganze Land erfasst und auch die Wirtschaft lähmt, hätte dann langfristig doch einen guten Effekt. Leider muss man bedenken, dass Lula noch nicht rechtskräftig verurteilt ist. Als ehemaliger Präsident hat er ein Sonderberufungsrecht und erst in einigen Monaten wird endgültig entschieden. In der Zwischenzeit stellt er sich als Kandidat für die Präsidentschaftswahl im nächsten Jahr in Positur.

Hierzulande berichtet die Presse, das Vertrauen der Brasilianer in die Politik sei auf dem Tiefpunkt angekommen. Ist das so?

Die Brasilianer hatten nie viel Vertrauen in die Politik und was jetzt abläuft, bestätigt die vorherrschende Meinung. Viele Brasilianer sind der Politik gegenüber passiv eingestellt. Das Land hat ja längere Phasen der Diktatur erlebt. Die jüngste ging erst 1985 nach zwanzig Jahren zu Ende. Danach hat man eine Verfassung der Illusionen geschaffen, voll von „sozialen Rechten“. Die neue brasilianische Konstitution der Zeit nach der Diktatur leidet außerdem darunter, dass sie eine Mischung aus präsidialen und parlamentarischen Elementen institutionalisiert. Die Menschen verstehen nicht, was politisch vor sich geht. Das System ist noch komplizierter als das Zusammenspiel der Organe der Europäischen Union, das ja auch kein Normalbürger versteht.

Wirtschaftlich durften die Brasilianer jüngst hoffen … die Teuerungsrate ging von 9 auf 3 Prozent zurück und nach drei Jahren Rezession zeigte sich im ersten Quartal 2017 ein leichtes Wirtschaftswachstum. Ist unter Präsident Michel Temer weitere Besserung zu erwarten?

Der gegenwärtige Präsident versucht das zu tun, was die beiden Vorgängerregierungen schon längst hätten tun sollen. Lula da Silva, der von 2003 bis 2011 an der Regierung war, hat sich als „Präsident der Armen“ profiliert und sich im In- und Ausland als Sozialreformer feiern lassen, tatsächlich aber keine der notwendigen Reformen in Angriff genommen. Als es dann mit der Wirtschaft bergab ging, hat seine Nachfolgerin im Amt, Dilma Rousseff versucht, den ausufernden Sozialstaat zu reformieren, die Bürokratie zu zähmen und das Steuersystem transparenter zu machen. Nichts davon ist ihr gelungen, denn ihre Arbeiterpartei – die „Partido dos Trabalhadores“ – machte nicht mit. Die Regierung Temer versucht nun einiges der Versäumnisse nachzuholen, aber ihm fehlt die volle Legitimation, da er ja durch das Amtsenthebungsverfahren gegen Rousseff an die Regierung kam und nicht durch Wahlen. Außerdem ist es in der Krise erfahrungsgemäß noch schwerer, Reformen durchzusetzen, als selbst zu Zeiten einer guten Konjunktur.

Welche Wirtschaftsreformen würde der Ökonom Antony Mueller in Angriff nehmen?

Dazu gibt es unter den Ökonomen einen ziemlich breiten Konsens. Fast jeder, der sich aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht nicht-ideologisch mit Brasilien beschäftigt, benennt vier Felder als höchst reformbedürftig: Erstens das Steuersystem. Die Steuerbelastung ist nicht nur relativ hoch, sondern vor allem auch extrem kompliziert und dementsprechend undurchsichtig. Im Land herrscht ein permanenter „Fiskalkrieg“ zwischen den Regierungsebenen. Betriebe müssen immens viel Zeit für die Steuererklärung aufwenden. Es gibt keine Rechtssicherheit.

Zweitens die Bürokratie. Die Bürokratie wuchert und dient – vor allem auf kommunaler und landesstaatlicher Ebene – dazu, den Parteifreunden und ihren Familien „Posten“ zu verschaffen. Viele Bundesländer sind de facto Pleite, weil sie die Pensionen nicht mehr zahlen können. Die Bürokratie dient in Brasilien nicht in erster Linie der Verwaltung, sondern der Arbeitsbeschaffung.

Drittens die makroökonomische Politik. Zum einen muss man konstatieren, dass sich seit dem Ende der Diktatur die Regierungen bemüht haben, es nicht wieder zu einer starken Inflation kommen zu lassen. Da hat man die Lehren aus der Zeit gezogen, als die Hyperinflation das Land in den 80er Jahren in den Ruin trieb. Allerdings wuchert allenthalben noch eine vulgäre Form des Keynesianismus mit der Folge, dass man sehr schnell nach mehr Ausgaben schreit, wenn die Wirtschaft schwächelt. Dies war der Fall, als die brasilianische Wirtschaft ab 2011 zu schwächeln begann und die Regierung durch eine wilde Ausgabenpolitik versuchte, die Konjunktur am Laufen zu halten. Umso schlimmer war dann der Einbruch.

Schließlich muss das Land dringend sein Arbeitsrecht und das System der Altersversorgung reformieren. Auch das versucht derzeit die Regierung Temer. Man sollte hinzufügen, dass Brasilien nicht unter unlösbaren Problemen leidet. Es gibt zum Beispiel keine schwerwiegenden religiösen oder rassischen Konflikte. Die Probleme Brasiliens sind lösbar. Es handelt sich durchwegs um technisch-administrative Fragen.

Brasilien ist flächen- und bevölkerungsmäßig der fünftgrößte Staat der Erde. Gibt es im Land irgendwelche Sezessionsbestrebungen?

Es gibt leichte Ansätze dazu im Süden und Südwesten des Landes. Dort schlägt das Herz der brasilianischen Volkswirtschaft. Der Rest des Landes hält umso stärker an der Einheit fest, da die meisten anderen Bundesländer von den Transfers der wirtschaftlich starken Länder abhängen. Die wirtschaftlich schwächeren Länder bilden politisch die Mehrheit und zögern auch nicht, ihre Machtposition wahrzunehmen. In diesen Teilen des Landes ist die Industrialisierung noch nicht voll angekommen. Allerdings verlangt man dasselbe Konsumniveau zu genießen wie die Menschen in den produktiven Bundesländern. Die Verfassung verbietet ausdrücklich die Sezession. Bislang kann man noch nicht ernsthaft von einer Sezessionsbewegung sprechen.

Am Ende noch eine persönliche Frage … in Kürze erscheint ein Buch von Ihnen, worauf dürfen wir uns freuen?

Ja, das Buch ist in der deutschen Version schon fertig und soll im August erscheinen. Auch eine englische und portugiesische Übersetzung ist schon auf dem Weg. Mein Anliegen besteht darin, möglichst überzeugend darzulegen, wie die Marktwirtschaft funktioniert und dass mehr freier Kapitalismus das System der Zukunft ist. Ich tue dies im Kontrast zu einer Darstellung des Sozialismus und des Interventionismus und wende mich dann den Problemen der Konjunktur, des Wachstums und der Weltwirtschaft zu. Darüber hinaus plädiere ich für die Abschaffung der Politik durch die Auswahl der politischen Repräsentanten durch ein Zufallswahlsystem und für die Privatisierung des Rechtssystems.

Die politischen Repräsentanten per Zufallswahl bestimmen? Würden Sie das noch kurz erläutern?

Ja, das klingt aufs Erste etwas utopisch, ist es aber nicht. Für Aristoteles war die Zufallsauswahl das Kennzeichen der Demokratie, während er die Abstimmung über Kandidaten als oligarchisch kennzeichnete. Im alten Griechenland wurde der „Rat der 500“ durch Zufall bestimmt und in der Republik Venedig galt für lange Zeit die Auswahl der Volksvertreter per Zufallsverfahren. Hayek hat sich in seiner „Verfassung der Freiheit“ für ein solches System ausgesprochen, das er als „Demarchie“ im Unterschied zur „Demokratie“ bezeichnete. Die moderne Technologie erlaubt die Anwendung des Prinzips der Zufallsauswahl auch für hohe Bevölkerungszahlen. Es geht darum, die Politik auszuschalten ohne die Partizipation der Bürger zu beschränken.

Das gegenwärtige System der Parteienherrschaft ist nicht nur weit von einer echten Demokratie entfernt, sondern treibt auch seiner inneren Logik gemäß zu immer mehr Staatsausgaben, immer mehr Bürokratie und immer komplizierteren Regelwerken für Staat und Wirtschaft. Von Staatsminimierung ist weit und breit nichts zu sehen. Man stelle sich hingegen ein System vor, wonach die Volksvertretung aus Mitgliedern besteht, die per Zufall ausgewählt sind. Erstens würde viel mehr Sachverstand als heute in die Parlamente einziehen, zweitens würde die Tendenz bestehen, die Steuern nicht zu erhöhen, also die Ausgaben zu senken, und drittens würden die Gesetze für das Volk verständlich werden. Man kann sich verschiedene Ausgestaltungen vorstellen. Anfangen könnte man mit einem durch Lotterie bestimmten Senat, der ein Vetorecht gegenüber dem Parteienparlament besitzt.

Vielen Dank, Herr Mueller. Wir freuen uns sehr auf Ihr Buch.

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Das Interview wurde im Juli 2017 per email geführt. Die Fragen stellte Andreas Marquart.

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Dr. Antony P. Mueller (antonymueller@gmail.com) ist habilitierter Wirtschaftswissenschaftler der Universität Erlangen-Nürnberg und derzeit Professor der Volkswirtschaftslehre, insbesondere Makroökonomie, an der brasilianischen Bundesuniversität UFS (www.ufs.br), wo er am Zentrum für angewandte Wirtschaftsforschung und an deren Konjunkturbericht mitarbeitet und im Doktoratsprogramm für Wirtschaftssoziologie mitwirkt. Dr. Müller ist außerdem Mitglied des Ludwig von Mises Institut USA und des Mises Institut Brasilien und leitet das Webportal Continental Economics (www.continentaleconomics.com).

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Hinweis: Die Inhalte der Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Ludwig von Mises Institut Deutschland wieder.

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