Der Misesianische Kern der Lucas-Kritik

17.8.2016 – von Karl-Friedrich Israel.

Karl-Friedrich Israel

Einer der herausragenden Beiträge in der modernen Makroökonomik ist die sogenannte Lucas-Kritik, benannt nach ihrem Urheber Robert E. Lucas Jr. (geboren 1937) – Träger des Alfred-Nobel-Gedächtnispreises für Wirtschaftswissenschaften aus dem Jahre 1995. Mit seinem Artikel über ökonometrische Politikevaluierung (Lucas 1983), der erstmals 1976 veröffentlicht wurde, löste er nach Auffassung vieler führender Ökonomen eine wahrhafte Revolution in den makroökonomischen Analyseverfahren aus. Er betonte, dass die zugrundeliegenden Koeffizienten der klassischen ökonometrischen Modelle nicht konstant sind. Damit seien diese Modelle ungeeignet für kontrafaktische Politikevaluierung. Mit anderen Worten, diese Modelle seien ungeeignet für die wissenschaftliche Vorhersage und Abschätzung der Folgen von politischen Eingriffen in die Wirtschaft, und somit auch ungeeignet für den prognostischen Vergleich alternativer Politikeingriffe.

Auf Basis der alten keynesianischen und monetaristischen Modelle aus den 1960er und 70er Jahren könne nicht wissenschaftlich vorhergesagt werden, ob etwa eine Expansion der Geldmenge tatsächlich zu einer Absenkung der Arbeitslosigkeit führen wird, geschweige denn in welchem Ausmaß. Das Problem ist, dass sich die Korrelationen zwischen makroökonomischen Aggregaten, wie der Preisinflation und Arbeitslosigkeit, ständig ändern. Wenn man eine bestimmte Korrelation für die Vergangenheit beobachtet hat, kann man nicht einfach davon ausgehen, dass diese auch für die Zukunft bestand haben wird, insbesondere dann nicht, wenn man Politiken einführt, die darauf abzielen, diese Korrelationen auszunutzen. Die politischen Rahmenbedingungen selbst beeinflussen das menschliche Handeln und können daher zu Veränderungen in den beobachtbaren Korrelationen des Marktgeschehens führen.

Um dem Problem der kontrafaktischen Politikevaluierung gerecht zu werden, brauche es Lucas zufolge „strukturelle Gleichungen“, deren Koeffizienten über die Zeit konstant bleiben. Nur wenn die Konstanz der Koeffizienten gewährleistet ist, können die empirisch-ökonometrischen Schätz- und Testverfahren sinnvoll angewendet werden. Durch die mikroökonomische Fundierung der Modelle soll genau dies infolge der Lucas-Kritik gelungen sein. Die sogenannten dynamisch stochastischen Gleichgewichtsmodelle (dynamic stochastic general equilibrium: DSGE) postulieren repräsentative Haushalte und Firmen, deren Verhalten unter Berücksichtigung der politischen Rahmenbedingungen mathematisch hergeleitet wird. Das Verhalten der Haushalte dient als Rahmenbedingung für die Profitmaximierung der Firmen und die Entscheidungen der Firmen fließen als Rahmenbedingung in das Nutzenmaximierungsproblem der Haushalte ein. Die Urheber dieser Modelle behaupten, dass alle relevanten Rückkopplungseffekte einbezogen seien. Die DSGE Modelle bilden vermeintlich ein geschlossenes System, in dem die Folgen einer Änderung der politischen Rahmenbedingungen, etwa eine Senkung der Zinsrate, hinreichend genau abgeschätzt werden können. Es wird behauptet, dass die modernen Modelle die Lucas-Kritik überwunden hätten und für kontrafaktische Politikevaluierung tauglich seien (z.B. Galí and Gertler 2007). Aber ist diese Behauptung gerechtfertigt?

In einer kürzlich erschienenen Publikation habe ich diese Frage verneint (Israel 2015). Das grundlegende Problem, das die Lucas-Kritik umreißt, ist durch die modernen Modellierungsmethoden nicht behoben. Das Problem der Inkonstanz  der beobachtbaren Beziehungen zwischen ökonomischen Variablen, also Variablen, die das Ergebnis menschlichen Handelns sind, kann nicht behoben werden. Solange die moderne Makroökonomie einen positivistisch-ökonometrischen Ansatz verfolgt, wird sie diesem Problem ausgesetzt sein. Es ist so fundamental und allgegenwärtig, dass es nicht zu umgehen ist. Es wäre daher von äußerster Wichtigkeit, das Problem der Inkonstanz  zumindest anzuerkennen, statt es unter den Teppich zu kehren, und bestenfalls die gängige Methodik in der modernen Makroökonomik gründlich zu hinterfragen und auf den Prüfstand zu stellen.

Eine tiefergehende Analyse des Problems findet sich in den epistemologischen und methodologischen Schriften von Ludwig von Mises (1881 – 1973) und Hans-Hermann Hoppe (Hoppe 1983; Mises 2014, 2016). Nach Mises, einem Vertreter des methodologischen Dualismus, gäbe es im menschlichen Handeln keine Konstanten, die ein naturwissenschaftliches Vorgehen rechtfertigen. Die Suche nach „strukturellen Gleichungen“ sei daher ein hoffnungsloses Unterfangen.

Um etwa eine Hypothese auf Basis empirischen Datenmaterials falsifizieren zu können, müssen wir das Konstanzprinzip voraussetzen. Es beinhaltet die Verstandsprinzipien „gleiche Ursache, gleiche Wirkung“ und „ungleiche Wirkung, ungleiche Ursache“, und schließt eine „Kontingenz (Variabilität) in der Wirksamkeit von Ursachen kategorisch“ aus (Hoppe 1983, S. 11). Wenn wir also in zwei verschiedenen Stichproben identische Ausprägungen für die erklärenden Variablen A, B und C, allerdings unterschiedliche Ausprägungen für die zu erklärende Variable Z beobachten, dann können wir nur auf Basis des Konstanzprinzips schlussfolgern, dass mindestens eine vierte erklärende Variable D am Werk gewesen sein muss, die den Unterschied erklären kann. Die Hypothese kann dann entsprechend angepasst werden, und auf Basis einer weiteren Stichprobe überprüft werden. Das Konstanzprinzip erlaubt also eine sukzessive Annäherung an die Wahrheit. Bei naturwissenschaftlichen Phänomenen ist diese Annahme recht unproblematisch. Aber ist sie für sozialwissenschaftliche Phänomene ebenfalls gerechtfertigt?

Die Frage ist also folgende: Können wir davon ausgehen, dass das menschliche Handeln dem Konstanzprinzip folgt, d.h. hat eine bestimmte Konfiguration ursächlicher Variablen immer den gleichen Effekt auf das menschliche Handeln? Oder kann das menschliche Handeln unterschiedliche Formen bei gleichen beobachtbaren Ursachen annehmen?

Nein und ja, und zwar genau in dieser Reihenfolge. Das Konstanzprinzip kann für sozialwissenschaftliche Sachverhalte nicht gerechtfertigt werden, und Menschen können unter augenscheinlich gleichen Rahmenbedingungen unterschiedlich handeln. Hoppe hat dieser intuitiv plausiblen Einsicht eine rigorose Fundierung gegeben. Ironischerweise knüpft sein Argument an Karl Poppers Kritik des Historizismus an (Popper 2002).

Popper stellte fest, dass wir aufgrund der Lernfähigkeit der Menschen den Stand unseres zukünftigen Wissens nicht vorhersagen können. Da aber das Wissen der Menschen den Geschichtsverlauf prägt, kann es gleichsam keine wissenschaftliche Theorie des Geschichtsverlaufs geben, und auch keine wissenschaftlichen Prognosen über den Verlauf der Zukunft. Damit stellte sich Popper insbesondere gegen die Ansichten von Marx und Spengler.

Die Lernfähigkeit der Menschen impliziert aber auch, wie Hoppe klarstellt, dass menschliches Handeln im Allgemeinen nicht wissenschaftlich vorhergesagt werden kann. Es sind ständig strukturelle Wandlungen möglich, die ein bisher mehr oder weniger gut funktionierendes ökonometrisches Modell komplett in die Irre führen.

Die klassischen keynesianischen und monetaristischen Modelle haben den strukturellen Wandel der Stagflation in den 1970er und 80er Jahren nicht vorhersagen können. Aber auch die modernen DSGE Modelle haben keine Hinweise auf die Große Rezession von 2008 gegeben. Es gibt Studien, die zeigen, dass die modernen Modelle keine besseren Vorhersagen getroffen hätten, wären sie anstatt der alten Modelle in den 1970er Jahren verwendet worden (z. B. Hurtado 2014). Die tatsächlichen Fortschritte in den makroökonomischen Analyseverfahren scheinen also längst nicht so groß zu sein, wie sie dargestellt werden. Insbesondere die Lucas-Kritik ist nicht überwunden worden. Auch wenn Lucas kein Misesianer war, finden wir in seiner Kritik einen Misesianischen Kern wieder: „Es gibt keine Konstanten im menschlichen Handeln.“ Das Konstanzprinzip ist bei sozialwissenschaftlichen Phänomenen, denen menschliches Handeln zugrundeliegt, nicht erfüllt. Diese Behauptung erhebt Wahrheitsanspruch aus Sicht der lernfähigen Menschen selbst. Da wir vermutlich alle der Gruppe lernfähiger Menschen zugerechnet werden können, hat diese Einsicht Gewicht.

Mises selbst schreibt jedoch auch:

„Sterbliche Menschen wissen nicht wie das Universum und alles was es enthält, einer übermenschlichen Intelligenz erscheinen mag. Vielleicht ist ein solch überragender Verstand in der Lage, eine schlüssige und umfassende monistische Erklärung aller Erscheinungen auszuarbeiten.“

Der Dualismus zwischen Natur- und Sozialwissenschaft, den Mises propagiert, ist also eine methodologische Notwendigkeit und erhebt nicht den Anspruch auf absolute Wahrheit.

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Quellen:

Galí, Jordi, and Mark Gertler. 2007. “Macroeconomic Modeling for Monetary Policy Evaluation.” Journal of Economic Perspectives 21(4): 25–45.

Hoppe, Hans-Hermann. 1983. Kritik Der Kausalwissenschafilichen Sozialforschung – Untersuchungen Zur Grundlegung von Soziologie Und Ökonomie. Opladen: Westdeutscher Verlag.

Hurtado, Samuel. 2014. “DSGE Models and the Lucas Critique.” Economic Modelling 44: S12–19.

Israel, Karl-Friedrich. 2015. “Modern Monetary Policy Evaluation and the Lucas Critique.” Political Dialogues: Journal of Political Theory 19: 123–45.

Lucas, Robert E. 1983. “Econometric Policy Evaluation: A Critique.” In Theory, Policy, Institutions: Papers from the Carnegie-Rochester Conference Series on Public Policy, eds. Karl Brunner and Alan Meltzer. North-Holland: Elsevier Science Publishers B.V., 257–84.

Mises, Ludwig von. 2014. Theorie Und Geschichte: Eine Interpretation Sozialer Und Wirtschaftlicher Entwicklung. München: H. Akston Verlag.

———. 2016. Die Letztbegründung Der Ökonomik: Ein Methodologischer Essay. mises.at.

Popper, Karl R. 2002. The Poverty of Historicism. London and New York: Routledge Classics.

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Karl-Friedrich Israel, 28, hat Volkswirtschaftslehre, Angewandte Mathematik und Statistik an der Humboldt-Universität zu Berlin, der ENSAE ParisTech und der Universität Oxford studiert. Zur Zeit absolviert er ein Doktorstudium an der Universität Angers in Frankreich.

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Hinweis: Die Inhalte der Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Ludwig von Mises Institut Deutschland wieder.

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