Die Europäische Union ist anti-europäisch

2.5.2016 – von Louis Rouanet.

Louis Rouanet

Was ist Europa? Anscheinend gibt es keine eindeutige Antwort auf diese Frage. Europa ist nicht wirklich ein Kontinent. Europa ist auch keine politische Einheit oder Vereinigung. Es ist kein vereintes Volk. Die beste Definition mag daher tatsächlich sein, dass Europa das Ergebnis eines langen historischen Prozesses ist. Dieser Prozess brachte nicht nur einzigartige Institutionen hervor, sondern auch eine einzigartige Vision, wie Menschen leben und sein sollten. Es entstand die Idee, dass Menschen frei von gewalttätiger, staatlicher Einmischung leben sollen.

Europa hat keine Gründerväter. Die Geburt Europas war nicht geplant, sondern gänzlich spontan. Europas Entwicklung war nicht das Ergebnis einer Auseinandersetzung von Armeen und Staaten, sondern sie ist das freiwillige Produkt von Klerikern, Händlern, Knechten und Intellektuellen, die danach strebten, frei miteinander handeln zu können. Europäer wurden durch ihre Freiheiten vereint und durch ihre Staaten getrennt. Anders gesagt, Europa wurde gegen Staaten und ihre willkürlichen Einschränkungen, nicht von Staaten errichtet.

Nach dem Fall des Römischen Reiches folgte eine Zeit der politischen Anarchie, in welcher Städte, Aristokraten, Könige und die Kirche miteinander im Wettbewerb standen. Dr. Ralph Raico folgert daraus in seinem Artikel „The European Miracle“:

Geographische Faktoren spielten durchaus eine Rolle. Ebenfalls wird Europa durch nur eine einzige Zivilisation – der lateinisch-christlichen Zivilisation – definiert. Aber der wahre Schlüssel zur westlichen Entwicklung liegt darin, dass Europa radikal dezentralisiert war. Im Gegensatz zu anderen Kulturen – insbesondere China, Indien und die muslimische Welt – war Europa ein System von geteilten und daher im Wettbewerb stehenden Mächten und Gerichtsbezirken.

Mit anderen Worten: Über Jahrhunderte hinweg führte eine lange Entwicklung der Institutionen zur Geburt der persönlichen Freiheit. Natürlich wurde die Freiheit durch die europäischen Aristokratien und Staaten eingeschränkt, aber diese wurden quasi systematisch dazu gezwungen, ihren Untertanen mehr Autonomie zu gewähren. Wann auch immer sie das nicht taten, leisteten die Untertanen Widerstand, indem sie fortgezogen sind oder von Schwarzmärkten Gebrauch machten. Leonard Liggio beschreibt Europa um 1000 nach Christus folgendermaßen:

Obwohl sie von den Ketten des Friedens und dem Waffenstillstand Gottes gezwungen worden waren, ihr Volk nicht auszurauben, brachten die unzähligen Anwesen und Baronien zahllose miteinander im Wettbewerb stehende Gerichtsbezirke, die alle in geographischer nächster Nähe lagen. […] Dieses polyzentrische System erschuf eine Kontrolle über die Politik. Im Falle einer Einführung von Steuern oder Regulierungen zog der Handwerker oder Händler einfach in den nächstgelegenen Gerichtsbezirk.

Der Weg der Freiheit begann in Europa. In Europa wurden die Werte des Individualismus, Liberalismus und der Autonomie entwickelt. Diese Werte und Ideen versetzten die Menschen in eine Aufbruchstimmung wie noch keine andere Zivilisation zuvor. Unglücklicherweise verschwanden die Werte und Institutionen, die einst Europa großartig machten, dann im 19. und 20. Jahrhundert unter dem Druck der politischen Zentralisierung, des Nationalismus, Etatismus, Sozialismus und Faschismus. Heute wird Europa von einer neuen Gefahr bedroht – von der Europäischen Union.

Die europäischen Institutionen bekämpfen den freien Markt

Im Gegensatz zu dem, was oft gesagt wird, hat die Europäische Union mit Frieden, Freiheit, Freihandel, freier Migration von Menschen und Kapital, Kooperation oder Stabilität nichts zu tun. All diese Dinge können problemlos in einem dezentralisierten System existieren oder bereitgestellt werden. Die Europäische Union ist nichts weiter als ein Kartell von Staaten, das versucht, durch die Harmonisierung von fiskalischen und regulatorischen Gesetzgebungen in jedem Mitgliedstaat an die Macht zu kommen. Artikel 93 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG-Vertrag, 1957) besagt, dass indirekte Steuern von der Europäischen Kommission harmonisiert werden können, „soweit diese Harmonisierung für die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts […] notwendig ist.“ Artikel 101 des gleichen Vertrages beschränkt den regulatorischen Wettbewerb, falls „vorhandene Unterschiede in den Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten die Wettbewerbsbedingungen auf dem Gemeinsamen Markt verfälschen und dadurch eine Verzerrung hervorrufen, die zu beseitigen ist“.

Seit 1951, mit der Erschaffung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), sind die Europäischen Institutionen vorrangig Planungsbehörden. Damals waren die Kohle- und Stahlindustrien größtenteils nationalisiert. Das Ziel der EGKS bestand nicht in der Liberalisierung, sondern in der Koordination der staatlichen Aktivitäten in diesen zwei Industriesektoren. Zu der Zeit war es allgemein bekannt, dass die EGKS nicht für Freihandel, sondern für staatliches Planungswesen stand. Der französische Außenminister Robert Schuman hat am 9. Mai 1950 in seiner Erklärung vorgeschlagen, dass die französisch-deutsche Kohle- und Stahlproduktion unter eine gemeinsame Hohe Behörde innerhalb einer Organisation, zu der andere europäische Länder beitreten können, gestellt werden. Die EGKS erschuf auch zum ersten mal europäische Wettbewerbsrechte (damit sind neben dem Kartellrecht das Recht der staatlichen Beihilfen, das Vergaberecht und das Recht öffentlicher Unternehmen gemeint). Die Austrians wissen ja, dabei handelt es sich um staatliche Planung im Namen einer fehlgerichteten Vision, was der Wettbewerb eigentlich ist.

Die Römischen Verträge (1957) – die Grundlage der EU, so wie wir sie kennen – sind selbst trotz der freien Bewegung von Gütern, Kapital und Personen sehr etatistisch. Unter anderem wurden eine „Europäische Investitionsbank“, ein „Europäischer Sozialfonds“, die sehr protektionistische „Gemeinsame Agrarpolitik“ und die „Gemeinsame Transportpolitik“ gegründet und die wettbewerbsrechtliche europäische Gesetzgebung verschärft. Vielleicht waren diese Römischen Verträge kurz- und mittelfristig ein Segen für die europäische Wirtschaft, da protektionistische Maßnahmen abgeschafft worden sind. Allerdings erschufen die Verträge Institutionen, die ihre regulatorische Macht in der Zukunft ohne große Probleme ausweiten konnten – und genau das haben sie auch getan.

Viele, die nach einer freien Marktwirtschaft streben, befürworten die Europäische Union mit der Begründung, dass die Regulierungen, selbst wenn sie schlecht sind, immer noch sehr viel besser als die Regulierungen der sehr „produktiven“ Nationalstaaten sind. Solch eine Argumentation, die oft in eher sozialistischen Ländern wie Frankreich verwendet wird, ist reiner Unsinn. Als ob man sagen würde: „Ich habe kein Problem damit, zwei mal ausgeraubt zu werden, weil der zweite Dieb sehr viel netter zu mir sein wird.“ Die Frage ist nicht, wie man „bessere“ Regulierungen erschafft, sondern wie man den Freihandel ausweiten kann.

Wahrer und falscher Europäismus

1946 schrieb F. A. von Hayek einen bahnbrechenden Artikel namens „Wahrer und falscher Individualismus“, in dem er zwischen zwei unterschiedlichen individualistischen Denktraditionen unterschied. Die eine, die auf Evolutionismus basiert, wird von Hayek als „wahrer Individualismus“ bezeichnet. Evolutionismus ist die Idee, dass das Verhalten von Institutionen und Individuen nicht bewusst geplant wird, sondern stattdessen das Ergebnis eines spontanen Prozesses ist. Der wahre Individualismus folgt der Tradition der schottischen Aufklärung. Falscher Individualismus basiert auf extremem Rationalismus und Solipsismus. Falscher Individualismus basiert auf der Idee, dass die Gesellschaft, die Freiheit, und Märkte geplant werden können und daher auch geplant werden sollten. Dieser falsche Individualismus ist das Werk der französischen Revolutionäre von 1789 und – noch deutlicher – 1793.

Diese zwei Arten des Individualismus stehen heute an der Wurzel zweier unterschiedlicher Arten von Europäismus. Der wahre Europäismus steht für die Einsicht, dass der Großteil der Erschaffung von Europa nicht geplant, sondern spontan war. Die Folge: So viel Dezentralisierung wie nur möglich ist notwendig, damit Europa weiter in die Zukunft blickt und die menschlichen Freiheiten schützt. Der falsche Europäismus besagt, dass nur eine zentrale Planung durch gemeinsame politische Institutionen zum einzig wahren Europa führt. Falsche „pro-Europäer“ glauben, dass man nur die Wahl zwischen Nationalstaaten und der Europäischen Union hat. Ihre Verteidigung einer zentralisierten europäischen politischen Einheit basiert auf der fehlerhaften Idee, dass sich politische Zentralisierung positiv auf den zivilisatorischen Prozess auswirkt, da die Gesellschaft, das Recht, die Märkte, der Wohlstand und der „europäische Geist“ von Herrschern entworfen werden sollten.

Diese Denker sagen, dem mittelalterlichen Europa mangelte es an Handelsintegration, da es keine politische Vereinigung gab. In ihrer Denke gab es erst dann wirtschaftlichen Fortschritt, als „Europa“ langsam damit anfing, neue Handelsallianzen zu entwickeln, die manche Aspekte von militärischem Schutz ansatzweise mit einem Freihandelsgebiet kombinierten. Aber diese Version der Geschichte ist weit von der Wahrheit entfernt. In dem Mittelalter war das lex mercatoria, das Gewohnheitsrecht der Handelsleute, komplett privat. Darüber hinaus wurden die Schutzzölle sowieso von den meisten Europäern ignoriert. Schmugglerei war so weit verbreitet, dass das mittelalterliche England nicht als ein Land der Händler, sondern als ein Land der Schmuggler gesehen werden sollte. In Conceived in Liberty beschreibt Murray Rothbard dieses Phänomen folgendermaßen:

Zu viele Historiker ließen sich von den Interpretationen der deutschen Wirtschaftshistoriker des späten 19. Jahrhunderts (beispielsweise Schmoller, Bucher, Ehrenberg) in die Irre führen. Sie stehen für die These, dass die Entwicklung eines starken, zentralisierten Nationalstaates für die Entwicklung des Kapitalismus in der frühen modernen Ära eine Voraussetzung war. Diese These wird nicht nur vom Aufblühen des kommerziellen Kapitalismus im Mittelalter in den lokalen und nicht-zentralisierten Städten Norditaliens, der Hanse und den Champagne-Messen, [sondern auch] vom herausragenden Wachstum der kapitalistischen Wirtschaft im freien, lokalisierten Antwerpen und Holland im 16. und 17. Jahrhundert widerlegt. So haben die Holländer den Rest von Europa überholt, während sie eine mittelalterliche lokale Autonomie behielten und auf eine Teilnahme im Staatsaufbau, Merkantilismus, in der staatlichen Einmischung im Unternehmertum – und in aggressiven Kriegen – verzichteten.

Daher ist die Idee, dass eine zentralisierte Autorität – in unserem Fall die Europäische Union – für den Freihandel notwendig ist, eine reine Fantasie und falscher Europäismus. Diese Art von konstruktivistischen Ideen ist schon von Anfang an in den europäischen Institutionen vorzufinden. Ein Beispiel: Eines der vorgeschlagenen Ziele der Römischen Verträge war es, „Märkte“ durch eine vereinte europäische, wettbewerbsrechtliche Gesetzgebung zu „erschaffen“. Im ähnlichen Stil war auch die offizielle Begründung der Gemeinsamen Agrarpolitik (1962), dass ein vereinter landwirtschaftlicher Markt erschaffen werden sollte. Aber zum Dasein brauchen Märkte weder Staaten noch Verträge und Absprachen zwischen Regierungen – und sie brauchen definitiv nicht die Europäische Union.

Die Parallele zwischen falschem Europäismus und falschem Individualismus ist auch in Bezug auf imperialistische Tendenzen relevant. Während die französischen Revolutionäre in Europa einmarschieren wollten, um ihre „universalen Werte“ mit Macht durchzusetzen, toleriert die Europäische Union im Namen Europas keine unabhängigen Staaten, die sich nicht gegenüber Brüssel unterwerfen wollen. Die Schweiz wird beispielsweise von der Europäischen Union dazu gezwungen, unzählige Regulierungen zur Lebensmittelsicherheit und zum Waffenbesitz aufzunehmen. Wenn sich die schweizerische Konföderation den vielen Bestimmungen des Europarechtes nicht unterwirft, dann droht die Europäische Union damit, den Zugang zum Europäischen Binnenmarkt zu kappen.

Die EU-Fanatiker haben viele unfassbare politischen Erfolge hinter sich. Das wahrscheinlich größte Wunder von allen: Mit Erfolg werden all diejenigen angeprangert, die sich einem europäischen hegemonialen Superstaat nicht unterwerfen wollen. Aber wir müssen verstehen, dass nur die sogenannten „Euro-Skeptiker“ wahrhaftig pro-Europa sind. Nur „Euro-Skeptiker“ sind gegenüber der Geschichte und den liberalen Werten ihres Kontinentes loyal. Mit anderen Worten: Die Europäische Union ist in höchstem Maße eine anti-europäische Institution.

Wir brauchen Dezentralisierung

Am 23. Juni 2016 stimmen die Briten darüber ab, ob sie in der EU verbleiben wollen oder nicht. Falls die Brexit-Befürworter siegen, bedeutet das vielleicht das Ende der Europäischen Union, wie wir sie kennen. Historisch gesehen spielte Großbritannien eine wichtige Rolle in der Aufrechterhaltung einer größtenteils dezentralisierten, europäischen Ordnung. Ob wir vom napoleonischen Frankreich, dem deutschen Zweiten Reich oder Nazideutschland sprechen – immer half Großbritannien am Ende, die hegemonialen Machenschaften von Imperien auf europäischem Boden aufzuhalten. Die Frage lautet also: Wird Großbritannien in diesem Sommer seine historische Rolle gegen die imperialistische Europäische Union spielen?

Jeden Versuch, ein eher dezentralisiertes System mit mehr Wettbewerb zwischen Staaten aufzubauen, sollten wir als Segen für Europa und die Europäer betrachten. Selbstverständlich müssen die Nationalstaaten aufgelöst werden – aber keinesfalls, wenn daraus ein noch größerer europäischer Leviathan entsteht. Ganz im Gegenteil, die Regionalisten und die Unabhängigkeitsbewegungen müssen unterstützt werden, ganz gleich ob es sich um Schottland, Katalonien oder Korsika handelt. Das europäische Wunder kann nur durch extreme politische Dezentralisierung wiederbelebt werden. Die Geschichte lehrt uns: Europa ist nur dann größer als die Summe aller Europäer, wenn die Freiheit der Europäer respektiert wird. Solange Europa von einer monolithischen und zentralen politischen Autorität oder von kriegerischen Nationalstaaten kontrolliert oder geführt wird, wird Europa dadurch beschränkt, dass die Europäer unfähig sind, den willkürlichen Einschränkungen ihrer Staaten zu entfliehen.

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Aus dem Englischen übersetzt von Vincent Steinberg. Der Originalbeitrag mit dem Titel The European Union Is Anti-European ist am 4.4.2016 auf der website des Mises-Institute, Auburn, US Alabama erschienen.

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Louis Rouanet ist Student am Institute of Political Studies in Paris und studiert dort Volkswirtschaftslehre und Politikwissenschaften.

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