Das gestörte Verhältnis der Intellektuellen zum Kapitalismus

25.4.2016 – von Murray N. Rothbard.

[Entnommen aus „Für eine neue Freiheit. Kritik der politischen Gewalt“, Band 2: Soziale Funktionen; herausgegeben von Stefan Blankertz.]

Murray N. Rothbard (1926 – 1995)

Linke Bauchschmerzen

Die linksliberalen Intellektuellen sind eine bemerkenswerte Gruppe. In den letzten drei oder vier Jahrzehnten, einer nicht sehr langen Zeit der menschlichen Geschichte, haben sie wie wirbelnde Derwische eine Reihe von verärgerten Beschwerden gegen den Kapitalismus des freien Marktes vorgebracht. Seltsam daran ist, dass jede dieser Beschwerden einem oder mehreren ihrer Vorgänger widersprach. Aber widersprüchliche Beschwerden scheinen die [links-]liberalen Intellektuellen nicht zu stören und ihre Aufregung nicht zu verringern, auch wenn es oft genau dieselben Intellektuellen sind, die sich so schnell wenden. Offensichtlich schaden all diese Wendungen weder ihrer Selbstgerechtigkeit noch ihrem Selbstbewusstsein:

1. In den späten 1930er und den frühen 1940er Jahren kamen die [links-]liberalen Intellektuellen zu der Schlussfolgerung, der Kapitalismus leide an einer unvermeidlichen „dauerhaften Stagnation“, die durch die Verlangsamung des Bevölkerungswachstums, das Ende der alten westlichen Welt und den vorausgesetzten „Fakt“ bewirkt werde, dass keine weiteren Entdeckungen mehr möglich seien. All das führe zu dauerhafter Stagnation, ständiger Massenarbeitslosigkeit und deshalb zur Notwendigkeit von Sozialismus oder durchgreifender staatlicher Planung als Ersatz für den Kapitalismus des freien Marktes. Und das an der Schwelle zum größten Boom in der amerikanischen Geschichte!

2. In den 1950er Jahren hielten die [links-]liberalen Intellektuellen ungeachtet des großen Booms im Nachkriegsamerika an ihrer Sichtweise fest, der Kult „wirtschaftlichen Wachstums“ erschien auf dieser Szene. Der Kapitalismus wachse zwar, er wachse aber nicht schnell genug. Deshalb müsse der Kapitalismus des freien Marktes nun aufgegeben werden, Sozialismus und staatliche Intervention sollten eingreifen und die Wirtschaft „beschleunigen“, müssten investieren und größere Ersparnisse erzwingen, um auf die Weise die Wachstumsrate zu maximieren, auch wenn wir gar nicht so schnell wachsen wollen. Konservative Ökonomen wie etwa Colin Clark kritisierten dieses [links-]liberale Programm als „Wachstumssucht“.

3. Plötzlich erschien John Kenneth Galbraith 1958 mit dem Besteller The Affluent Society auf der „liberalen“ Szene. Und genauso unvermittelt kehrten die [links-]liberalen Intellektuellen ihre Anklagen um. Der Ärger mit dem Kapitalismus war, wie es jetzt erschien, dass er zu stark wachse. Wir stagnierten nicht länger, sondern uns ging es zu gut, die Menschen verlören ihre Spiritualität inmitten von Supermärkten und Autoschwanzflossen. Es sei deshalb notwendig, dass der Staat einschritte, entweder mit massiver Intervention oder mit Sozialismus, und die Verbraucher stark besteuere, um ihren aufgeblähten Überfluss zu verringern.

4. Der Kult des exzessiven Überflusses hatte seine Zeit, um dann durch eine entgegengesetzte Klage über die Armut abgelöst zu werden, die durch Michael Harringtons Buch The Other America von 1962 angeregt wurde. Plötzlich war das Problem in Amerika nicht exzessiver Überfluss, sondern wachsende und drückende Armut, und wieder sollte die Lösung im Einschreiten das Staates bestehen, der die Reichen besteuere, um die Lage er Armen zu verbessern. So bekamen wir für einige Jahre den War on Poverty.

5. Stagnation, Wachstumsschwäche, materieller Überfluss, Armut – die intellektuellen Moden verändern sich wie die Länge der Frauenkleider. Dann veröffentlichte im Jahr 1964 das glücklicherweise kurzlebige Ad-hoc-Committee on the Triple Revolution sein damals berühmtes Memorandum, welches die Kapriolen der [links-]liberalen Intellektuellen vollendete. Für zwei oder drei ausgelassene Jahre wurden wir mit der Idee erfreut, Amerikas Problem sei nicht die Stagnation, sondern deren exaktes Gegenteil: In einigen wenigen Jahren wären Amerikas Produktionsstätten automatisiert und „kybernetisiert“, die Gewinne und die Produktion wären enorm und überreichlich, aber alle würden aus ihrem Job wegrationalisiert. Wiederum sollte der Kapitalismus des freien Marktes zu Massenarbeitslosigkeit führen, die nur – Sie ahnen es schon – durch massive staatliche Interventionen oder direkten Sozialismus bekämpft werden könne. Für einige Jahre litten wir in der Mitte der 1960er Jahre unter dem, was richtigerweise die „Automatisierungshysterie“ genannt wurde.

6. In den späten 1960er Jahren ging allen auf, dass die Automatisierungshysterie vollkommen falsch war und die Automatisierung nicht schneller verlief als die frühere „Mechanisierung“. Tatsächlich sank in der Rezession von 1969 die Wachstumsrate der Produktivität. Man hört heute nichts mehr über die Gefahren der Automatisierung, wir befinden uns nunmehr in der siebenten Phase vom [links-]liberalen ökonomischen „Hin und Her“.

7. Der Überfluss ist wieder gewaltig. Im Namen von Umweltschutz, Ökologie und der zunehmenden Knappheit der Ressourcen wächst der Kapitalismus viel zu schnell. Selbstredend müssen staatliche Planungen oder Sozialismus nunmehr einschreiten, um Wachstum zu verhindern und eine Nullwachstumsgesellschaft und -wirtschaft zu erzeugen und all das „negative“ Wachstum irgendwann in der Zukunft zu vermeiden. Wir sind jetzt zu einer Super-Galbraithschen Position heimgekehrt, zu der der wissenschaftliche Jargon von Emission, Ökologie und „Raumschiff Erde“ genauso hinzugetreten ist wie die bittere Anklage gegen die Technologie selber als böser Verschmutzer. Der Kapitalismus hat die Technologie und das Wachstum einschließlich das Bevölkerungswachstums, der Industrie und der Verschmutzung hervorgebracht und der Staat muss einschreiten und diese Übel ausrotten.

Es ist nicht ungewöhnlich, Leute zu finden, die eine widersprüchliche Mischung aus den Positionen 5 und 7 vertreten und zur gleichen Zeit behaupten, dass wir (a) in einem „Nach-Mangel“-Zeitalter leben, in dem wir nicht länger Privateigentum, Kapitalismus oder materielle Anreize für die Produktion brauchen und dass (b) die kapitalistische Gier Raubbau an unseren Ressourcen treibe und weltweite Knappheit mit sich bringe. Die [links-]liberale Antwort auf diese beiden und wirklich alle anderen Probleme stellt sich selbstredend als immer dieselbe heraus: Sozialismus oder staatliche Planung müssen den Kapitalismus des freien Marktes ersetzen. Der große Ökonom Joseph Schumpeter brachte die ganze schlampige Arbeit der [links-]liberalen Ökonomen schon vor einer Generation auf den Punkt:

So ficht […] der Kapitalismus seinen Prozess vor Richtern aus, die das Todesurteil bereits in der Tasche haben. Sie werden es fällen, ohne Rücksicht auf die vorgebrachte Verteidigung; der einzige Erfolg, den eine siegreiche Verteidigung möglicherweise zeitigen kann, ist eine Änderung der Anklage.

Die Anklagen ändern sich und widersprechen vorherigen Anklagen, die Antwort aber bleibt immer dieselbe.

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Murray N. Rothbard wurde 1926 in New York geboren, wo er an der dortigen Universität Schüler von Ludwig von Mises wurde. Rothbard, der 1962 in seinem Werk Man, Economy, and State die Misesianische Theorie noch einmal grundlegend zusammenfasste, hat selbst diese letzte Aufgabe, die Mises dem Staat zubilligt, einer mehr als kritischen Überprüfung unterzogen.

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Hinweis: Die Inhalte der Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Ludwig von Mises Institut Deutschland wieder.

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