Mit dem Verschwinden des Liberalismus kam das Chaos

20.1.2016 – von Ludwig von Mises.

Ludwig von Mises (1881 – 1973)

Die landläufige Meinung will die Wurzel der Konflikte, die die Menschen heute in Bürgerkriege und Staatenkriege treiben, in «wirtschaftlichen» Interessengegensätzen erblicken, die in der Marktgesellschaft unentrinnbar sind. Im Bürgerkrieg erheben sich die «ausgebeuteten Klassen» gegen die Klassen der Ausbeuter. Im Staatenkrieg kämpfen die Völker, die bei der Teilung der Erde und ihrer Schätze zu kurz gekommen sind, gegen die, die mehr an sich gerissen haben, als ihnen zukommt. Wer heute für Liberalismus, Demokratie und Frieden einzutreten wagt, wird als Verteidiger einer die gerechten Ansprüche der Mehrheit der Menschen schädigenden Weltordnung gebrandmarkt. Denn es sei doch offenkundig und könne von Gutgläubigen gar nicht bestritten werden, dass die Welt voll sei von schweren Interessenkonflikten, die nur durch die Waffen ausgetragen werden könnten. Wenn man von Harmonie der Interessen spreche und Frieden empfehle, müsse man entweder ein Narr oder ein bewusster Anwalt jener eigensüchtigen Sonderinteressen sein, die fürchten, durch den Sieg der gerechten Sache zu verlieren.

Es ist freilich wahr, dass in der Welt, in der wir leben, Interessenkonflikte bestehen, die zu Kriegen treiben. Doch diese Konflikte entspringen keineswegs dem Getriebe der Marktwirtschaft. Man kann diese Konflikte als wirtschaftliche bezeichnen, weil sie dem Umkreis des Lebens angehören, den man wirtschaftlich zu nennen pflegt, doch man darf aus dieser Bezeichnung nicht etwa den Schluss ziehen, dass sie Interessengegensätzen entstammen, die die unbehinderte Marktwirtschaft hervorkommen lässt. Ihre Quelle ist nicht die Marktwirtschaft, sondern gerade Privilegien und Eingriffe, durch die die staatlichen Gewaltapparate den Gang der Marktwirtschaft hemmen. Das bedeutendste Privileg dieser Art ist das durch die Wanderungsbeschränkungen für die Arbeiter der relativ untervölkerten Länder geschaffene Vorrecht, das den Bevorrechteten die Erreichung höherer Löhne ermöglicht und die Benachteiligten zwingt, sich mit niedrigeren Löhnen zufrieden zu geben. Die höhere Lebenshaltung der Arbeiter in den Ländern, die günstigere natürliche Produktionsbedingungen aufweisen, wird durch Herabdrückung der Lebenshaltung der Arbeiter in den Ländern ungünstigerer Produktionsbedingungen erkauft. Überdies wird die Gesamtproduktivität der menschlichen Arbeit herabgesetzt; ein Teil der Produktion wird an Standorten festgelegt, die hei Freizügigkeit der Arbeiter nicht verwendet werden würden, weil noch an günstigeren Standorten Raum für die Ausweitung der Produktion vorhanden ist.

Man denke sich die Welt als ein einziges Marktwirtschaftsgefüge, in dem das Marktgetriebe durch keinerlei Maßnahmen behindert wird, die es dem Einzelnen verwehren, sich als Unternehmer, Eigentümer oder Arbeiter so zu betätigen, wie er es für zweckmäßig erachtet, und man frage, welche von den sogenannten wirtschaftlichen Konfliktursachen in einer so beschaffenen Weltordnung übrigbleiben würde. Man stelle sich doch vor, was es bedeuten würde, wenn alle Menschen und alle Güter volle Freizügigkeit genießen würden, wenn überall auf Erden das Sondereigentum an den Produktionsmitteln streng durchgeführt wäre, wenn kein Staat und kein Gericht einen Unterschied zwischen Einheimischen und Fremden machen würden, wenn es daher für jedermann gleichgültig wäre, wo die Grenzen zwischen den einzelnen Staatsgebieten laufen.

Alle jene Konflikte zwischen den Staaten und Völkern, die man als wirtschaftliche zu bezeichnen pflegt, entspringen nicht Interessengegensätzen, die im Innern eines Marktwirtschaftsgefüges unversöhnbar auftreten, sondern den Bestrebungen, das marktwirtschaftliche System menschlicher Kooperation durch eine andere Ordnung zu ersetzen. Nicht weil es auf dem Markte zu unüberbrückbaren Gegensätzen der Interessen kommen muss, sondern weil man aus politischen Gründen die Marktwirtschaft hemmen und beseitigen will, gibt es Konflikte. Das Schlagwort vom Primat der Politik gegenüber der Wirtschaft weist auf diesen Sachverhalt hin, wenn es ihn auch nicht in befriedigender Weise ausdrückt. Denn einerseits ist auch der Liberalismus, der die Marktwirtschaft will, Politik, und anderseits mag auch die Ordnung der Dinge, die der Antiliberalismus herstellen will, als Wirtschaft angesehen werden.

Bis zum Durchbruch des Liberalismus lebten die Menschen vorwiegend von dem, was in der Gegend, in der sie wohnten, aus heimischen Rohstoffen erzeugt werden konnte. Die Ausgestaltung der internationalen Arbeitsteilung hat darin radikal Wandel geschaffen. Aus weiter Ferne eingeführte Lebensmittel und Rohstoffe sind zu Gegenständen des Massenverbrauchs geworden. Die Europäer könnten heute nur bei empfindlicher Herabdrückung der Lebenshaltung auf den Bezug von Erzen und Mineralien, von Wolle und Baumwolle, von Kaffee, Tee, Schokolade, Pflanzenfett, Früchten und von vielen anderen Artikeln ihres täglichen Verbrauchs aus den in anderen Weltteilen gelegenen Produktionsstätten verzichten. Die Wirtschaftsverfassung des liberalen Zeitalters hat die institutionellen Bedingungen für die Ausbildung der internationalen Arbeitsteilung geschaffen, indem sie Schritt für Schritt die Hindernisse, die das Getriebe der Marktwirtschaft hemmten, zu beseitigen suchte. Freizügigkeit der Menschen, der Kapitalien und der Waren haben die Welt des Wasserrads und des Segelschiffs in die Welt der Elektrizität, des Flugzeugs und des Rundfunks umgewandelt.

Die Wirtschaftsgestaltung des 19. Jahrhunderts, die die früher isolierten Wirtschaftsgefüge der einzelnen Länder und Weltteile zum Weltwirtschaftsgefüge verschmolzen hat, hätte die Aufhebung der Souveränität der Einzelstaaten erfordert. Man darf nicht etwa behaupten, dass der Liberalismus in diesem Punkte versagt habe, weil er in sein Programm nicht auch die Vernichtung der politischen Unabhängigkeit der Einzelstaaten und ihre Unterordnung unter die Oberherrschaft eines die ganze Erde umspannenden Weltstaats aufgenommen hat. Es war im liberalen Sinne folgerichtig, die politische Einigung und Befriedung der Menschheit nicht durch die Schaffung eines neuen Zwangsapparates anzustreben, sondern durch eine Wandlung des Denkens und der Gesinnung. Nicht von außen sollte den Menschen der Frieden durch Zwang und Waffengewalt aufgedrängt werden; sie sollten friedlich werden durch die Erkenntnis, dass sie ihre menschlichen Ziele nur auf friedlichem Wege erreichen können. Wenn alle Völker, von liberalen Ideen durchdrungen, liberale Politik machen, werden sie in Frieden leben und friedlich kooperieren, auch wenn dem äußeren Anschein nach die Souveränität der Staaten unberührt bleibt und die Empfindlichkeiten und Eitelkeiten der Fürsten und Minister geschont werden. Wie im englischen Staatswesen die Formen des königlichen Absolutismus sich als verträglich mit demokratischer Parlamentsherrschaft erwiesen haben, so würden auch die Formen einzelstaatlicher Souveränität der politischen Einigung der Welt nicht im Wege stehen.

Der Liberalismus erkannte klar, dass die politische Organisation der Welt nur auf Grundlage allgemeiner rückhaltloser Anerkennung der liberalen Ideen möglich ist. Weder der Gedanke, den Weltstaat durch Eroberung und Annexion aller Einzelstaaten zu errichten, noch der eines Völkerbundes, der sich nicht auf liberale Ideologie stützen kann, können als liberal angesehen werden. Wenn aber überall auf Erden das Programm des Liberalismus durchgeführt wird, ist der Weltstaat auch ohne formelle Bindung, ohne Weltbürokratie und ohne Amtspaläste eine Realität.

Der verhängnisvolle Irrtum der Pazifisten liegt gerade darin, dass sie das verkennen. Der Liberalismus hätte den ewigen Frieden und die friedliche Zusammenarbeit der Völker und Staaten gebracht, weil in der unbehinderten Marktwirtschaft keine Konflikte zwischen Völkern und Staaten entstehen können. Wenn man jedoch die Marktwirtschaft hemmt, entstehen Konflikte, die durch den Zuspruch der Pazifisten nicht behoben werden können.

Die Befriedung der Welt, die die liberalen Vorkämpfer des 19. Jahrhunderts in greifbarer Nähe wähnten, ist durch die Abkehr der Menschen vom liberalen Denken und Handeln vereitelt worden. Friedensliebe, die nicht auf liberaler Politik aufgebaut ist, ist blind und ohnmächtig. Dass die Welt nach der Niederlage des Liberalismus noch eine Reihe von Jahren von großen Kriegen verschont blieb, war nur dem alten System des europäischen Gleichgewichts zu danken. Als dieses System zusammenbrach, kam das Chaos.

Der Genfer Völkerbund ist ein Erzeugnis jenes utopischen Pazifismus, der nicht die Konflikte, sondern nur ihre kriegerische Austragung beseitigen will. Er hätte, auch wenn er besser organisiert worden wäre, nie das leisten können, was man von ihm erwartet hat. Nicht die Verfassung des Völkerbundes ist mangelhaft; die Idee, die ihm zugrundeliegt, ist falsch. Nur liberale Staaten könnten einen Völkerbund bilden, der Frieden gibt; wenn aber alle Staaten liberal sind, bedarf es zur Erhaltung des Friedens keines Paktes.

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Ludwig von Mises (1940), Nationalökonomie. Theorie des Handelns und Wirtschaftens, Vierter Teil, Die Marktwirtschaft, S. 624 – 627.

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Ludwig von Mises, geb. 1881 in Lemberg, war der wohl bedeutendste Ökonom und Sozialphilosoph des 20. Jahrhunderts. Wie kein anderer hat er die (wissenschafts)theoretische Begründung für das System der freien Märkte, die auf unbedingter Achtung des Privateigentums aufgebaut sind, und gegen jede Form staatlicher Einmischung in das Wirtschafts- und Gesellschaftsleben geliefert. Seine Werke sind Meilensteine der Politischen Ökonomie. Das 1922 erschienene “Die Gemeinwirtschaft” gilt als erster wissenschaftlicher und umfassender Beweis für die “Unmöglichkeit des Sozialismus”. Sein Werk “Human Action” (1949) hat bei amerikanischen Libertarians den Rang einer akademischen “Bibel”. Mises war Hochschullehrer an der Wiener Universität und Direktor der Österreichischen Handelskammer. Ab 1934 lehrte er am Institut des Hautes Etudes in Genf. 1940 Übersiedlung nach New York, wo er nach weiteren Jahrzehnten der Lehr- und Gelehrtentätigkeit 1973 im Alter von 92 Jahren starb.

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