Der „Urzins“ ist stets positiv, er kann niemals negativ sein

19.6.2015 – von Thorsten Polleit.

Thorsten Polleit

Eine Reihe einflussreicher Ökonomen vertritt die Meinung, der „neue gleichgewichtige Zinssatz“ (der auch als „natürlicher Zinssatz“ oder als „Urzins“ bezeichnet wird) sei negativ, da im Zuge einer „säkularen Stagnation“ ein „Überangebot an Ersparnissen“ entstanden sei.[1]

Die Ersparnisse überstiegen die Investitionen, und ein negativer Zins sei nötig, um das Sparen in Übereinstimmung mit dem Investieren zu bringen. Doch die Idee, der „natürliche Zins“ könne negativ sein (oder werden), hält einer kritischen Überprüfung nicht stand.[2]

Um das zu zeigen, bietet es sich an, zwischen zwei „Zinsarten“ zu unterscheiden: dem Marktzins auf der einen Seite und dem Urzins auf der anderen Seite.

Der Marktzinssatz ist das Ergebnis aus Angebot und Nachfrage nach Ersparnissen in einer Marktwirtschaft. Er kann beispielsweise im Einlagen-, Anleihen- oder Kreditmarkt für unterschiedliche Laufzeiten und Kreditqualitäten direkt beobachtet werden.

Der Urzins, der sich nicht direkt beobachten lässt, ist das „Ur- und Grundphänomen allen Wertens und Wirtschaftens.“[3] Der Urzins steckt gewissermaßen in jedem handelnden Mensch und erschließt sich aus der Logik des menschlichen Handelns.

Der Urzins besagt, dass der Handelnde gegenwärtige Güter notwendigerweise höher wertet als zukünftige Güter. Es ist der Urzins, der dafür verantwortlich ist, dass zukünftige Güter einen Wertabschlag gegenüber gegenwärtigen Gütern erleiden.

Der „Urzins” spiegelt eine Wertdifferenz wider

Der Urzins ist Ausdruck einer Wertdifferenz, die sich durch die Zeitpräferenz erklärt.[4] Der Begriff Zeitpräferenz besagt, dass der handelnde Mensch eine frühere Erreichung seiner Ziele einer späteren vorzieht.

Die Zeitpräferenz ist überall und zu jeder Zeit positiv, und folglich ist auch der Urzins überall und zu jeder Zeit positiv. Das ist eine denknotwendige Erkenntnis, die aus dem Satz „Der Mensch handelt“ abgeleitet ist.

Der Satz „Der Mensch handelt“ lässt sich nicht widerlegen: Man kann nicht widerspruchsfrei argumentieren, dass der Mensch nicht handelt. Wer eine solche Aussage macht, der handelt – und widerspricht dem Gesagten.

Aus dem Satz „Der Mensch handelt“ folgt zum Beispiel, dass menschliches Handeln stets zielgerichtet ist; dass Mittel eingesetzt werden müssen, um Ziele zu erreichen; oder dass das Handeln immer Zeit erfordert.

Zeit ist ein knappes Mittel, das unverzichtbar ist, damit der Handelnde seine Ziele erreichen kann. Zeit muss daher bewirtschaftet werden, und das wiederum bedeutet, dass eine frühere Befriedigung von Wünschen einer späteren bevorzugt wird.

Der Urzins ist stets positiv

Aus (praxeo-)logischen Gründen sind Zeitpräferenz und Urzins immer und überall positiv, sie können nicht auf null fallen, geschweige denn negativ werden. Die Vorstellung, der Urzins könnte negativ sein, kann vom menschlichen Geist nicht einmal erfasst werden.

Man denke nur einmal darüber nach, was es bedeuten würde, wenn der Urzins null wäre. Die Handelnden würden dann die Verwirklichung ihrer Ziele kontinuierlich in die Zukunft verschieben. Niemand würde jemals konsumieren, das gesamte Einkommen würde gespart.

Und zwar immerfort: Die Handelnden würden nicht heute, sie würden aber auch nicht morgen oder übermorgen konsumieren, und sie würden auch nicht in einer Woche oder in zwei oder zehn Jahren konsumieren.

Würde der Urzins verschwinden, so würde das bedeuten, dass man einem Apfel, den man heute verzehren kann, zwei Äpfel, die man erst in tausend oder zehntausend Jahren verzehren kann, vorzieht.

Die Behauptung, die Zeitpräferenz und der ursprüngliche Zinssatz könnten null sein (oder es einmal werden), ist unsinnig: Eine positive Zeitpräferenz und ein positiver Urzins sind (handlungs-)logische Notwendigkeiten.

Selbst Robinson Crusoe auf seiner einsamen Insel hat eine positive Zeitpräferenz, sein Urzins ist positiv. Auch in einer Naturalwirtschaft, in der es kein Geld und keinen Kredit gibt, wäre der Urzins der Handelnden positiv.

Der Urzins ist auch positiv für alle, die in einer sozialistischen oder gar kommunistischen Gemeinschaft (über-)leben. Auch hier würden die Handelnden Gegenwartsgüter höher als Zukunftsgüter schätzen, und zwar denknotwendig.

Argumente, die nicht überzeugen

Einige (Mainstream-)Ökonomen argumentieren, durch die zunehmende Lebenserwartung und die sich daraus ergebenden Versorgungslücken im Alter würden die Menschen bald Zukunftskonsum gegenüber Gegenwartskonsum bevorzugen.

Die Zeitpräferenz und damit der Urzins können im Laufe der Zeit durchaus zunehmen: Gegenwartsgüter werden dann weniger stark bevorzugt gegenüber Zukunftsgütern. Doch der Urzins kann aus logischen Gründen nicht auf null fallen, geschweige negativ werden.

Ein anderes Argument, das die Möglichkeit eines negativen Urzins plausibel machen will, lautet: Herr A hat durch Verkosten einer Speise seinen Hunger gestillt. Es sind aber noch Speisereste übrig, die er heute nicht mehr, aber morgen verspeisen mag.

Lässt sich daraus der Schluss ziehen, dass Herr A die Verkostung der Essensreste in der Zukunft höher schätzt als ihren gegenwärtigen Verzehr? Wertet er das Zukunftsgut (Verkostung der Speise in der Zukunft) höher als das Gegenwartsgut?

Die Antwort lautet nein, und sie erklärt sich wie folgt: Güter sind, ökonomisch betrachtet, Mittel, die zur Erreichung eines Ziels eingesetzt werden. Dinge, die sich nicht (mehr) eignen, ein Ziel zu erreichen, sind aus Sicht des Handelnden keine Güter (mehr).

Ist der Hunger durch die Speise gestillt, hören die Speisereste auf, ein Mittel zu sein, mit dem das Ziel »den gegenwärtigen Hunger stillen« erreicht werden kann. Die Speisereste können nun ein Mittel sein, um andere Ziele zu erreichen (beispielsweise die Hühner zu füttern); oder sie hören auf, ein Gut zu sein, wenn es keine andere Verwendung für sie gibt.

Das Argument der »Sättigung« kann jedoch die Einsicht, dass die Zeitpräferenz und damit der Urzins stets und überall positiv sind, nicht widerlegen. Denn es erklärt nicht den relevanten Fall:

Und das ist der Fall, in dem der Handelnde sich zwischen alternativen Verwendungen von ein und demselben Gut zu entscheiden hat. Genau das aber ist im Beispiel mit der Speiseresteverwendung nicht gegeben. Hier werden sprichwörtlich Äpfel mit Birnen verglichen.

Der Marktzins kann negativ werden, nicht aber der Urzins

Welcher Zusammenhang besteht zwischen dem Marktzins und Urzins? Auf dem freien Markt bildet sich ein Markt-Urzins durch Angebot von und Nachfrage nach Ersparnissen; dieser Markt-Urzins ist Ausdruck der volkswirtschaftlichen Zeitpräferenz.

Rechnet man zum Markt-Urzins Inflations- und Risikoprämien hinzu, so erhält man den nominalen Marktzins. Wenn der Markt-Urzins bei zwei Prozent, die Inflations- und Risikoprämie bei jeweils einem Prozent liegen, beträgt der nominale Marktzins vier Prozent.

In einem „gehemmten Markt“ drückt die Zentralbank den nominalen Marktzins künstlich herab. Sie kann ihn sogar in den Negativbereich absenken – wie es in einer Reihe von Volkswirtschaften aktuell zu beobachten ist.

In beiden Fällen fällt dadurch der Realzins (er errechnet sich als „gedrückter“ nominaler Marktzins abzüglich Inflations- und Risikoprämien) unter den Markt-Urzins. Dadurch werden Wirtschaftsstörungen ausgelöst, und zwar notwendigerweise.

Was würde passieren, wenn es der Zentralbank tatsächlich gelänge, alle Marktzinsen in den Negativbereich zu drücken? Das „kapitalistische Sparen“ – die Akkumulation von Gütern mit dem Zweck, den Produktionsprozess zu verbessern – würde aufhören.

Lässt sich keine Rendite mehr erzielen, wird niemand mehr investieren, es wird nur noch konsumiert – schließlich ist der Urzins immer und überall positiv. Nicht nur der Aufbau des Kapitalstocks hört auf, es kommt auch zum Kapitalverzehr. Die Menschen würden in primitives Wirtschaften und Armut zurückgeworfen werden.

Negativzinspolitik und Bargeldverbot

Aus irgendeinem Grund übersehen diejenigen, die argumentieren, der Urzins sei negativ, den Umstand, dass der Urzins nicht auf den Kreditmarkt beschränkt ist. Vielmehr zeigt er sich in allen Märkten, in denen gegenwärtige gegen zukünftige Güter getauscht werden.[5]

Den Urzins gibt es beispielsweise auch im Aktienmarkt, also dem Markt, in dem Investoren gegenwärtiges Geld gegen zukünftiges Geld (die Erwartung auf eine Dividendenausschüttung) tauschen.

Wenn die Befürworter des Negativzinses konsistent argumentieren wollten, müssten sie sich folglich für eine Politik aussprechen, die nicht nur die Renditen auf dem Kreditmarkt, sondern auch die Renditen in den Aktien- und Wohnungsmärkten negativ werden lässt.

Eine Politik aber, die für negative Renditen bei Unternehmen und Immobilien sorgt, würde wohl nicht sehr freundlich von der Öffentlichkeit aufgenommen werden, und diejenigen Ökonomen, die sie befürworten würden, könnten nicht erwarten, bejubelt zu werden.

Die Einsicht, dass der Urzins niemals null, geschweige denn negativ sein oder werden kann, ist mehr als eine akademische Gedankenübung: Sie macht unmissverständlich klar, dass Zinsmanipulationen der Zentralbanken schädlich sind.

Dass der Urzins niemals negativ sein kann, nimmt auch den Befürwortern der Bargeldabschaffung den Wind aus den Segeln: Sie fordern die Abschaffung des Bargeldes, weil sich nur auf diesem Wege die Politik des Negativzinses wirksam durchsetzen lasse.

Negativzinsen seien unverzichtbar, so das Argument, damit die Volkswirtschaften wachsen können. Wer jedoch verstanden hat, was der Urzins ist, der erkennt, dass sich hinter der Forderung nach einer Bargeldabschaffung keine vernünftigen ökonomischen Motive verbergen.

*****

Dieser Beitrag ist am 21.3.2015 in ähnlicher Form unter dem Titel The “Natural Interest Rate” Is Always Positive and Cannot Be Negative auf der auf der website des Mises-Institute, Auburn, US Alabama erschienen. Aus dem Englischen übersetzt von Arno Stöcker.

[1] Siehe z. B. Gregory Mankiw, “It May be Time for the Fed to Go Negative“, New York Times, 18 April 2009; oder die Rede von Larry H. Summers beim IMF Economic Forum, 8 November 2013.

[2] Ausführungen zur ‚reinen Zeitpräferenztheorie des Zinses‘ finden sich in: Jeffrey M. Herbener, ed., The Pure Time-Preference Theory of Interest (Auburn, Ala.: Mises Institute, 2011).

[3] Mises, L. v. (1940), Nationalökonomie. Theorie des Handelns und Wirtschaftens, S. 474.

[4] Für weiterführende Erklärungen siehe Ludwig von Mises, Human Action: A Treatise on Economics, The Scholar’s Edition (Auburn, Ala.: Mises Institute, 2008), Kapitel XIX: “The Interest Rate”, S. 521 – 534.

[5] Siehe Murray N. Rothbard, Man Economy, and State (Auburn, Ala.: Mises Institute, [1962] 2001), Kapitel 6 “Production: The Rate of Interest and Its Determination”, S. 313 – 386.

Foto-Startseite: © K.-U. Häßler – Fotolia.com

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Thorsten Polleit, 47, ist seit April 2012 Chefvolkswirt der Degussa Goldhandel GmbH. Er ist Honorarprofessor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bayreuth, Adjunct Scholar am Ludwig von Mises Institute, Auburn, US Alabama, Mitglied im Forschungsnetzwerk „Research On money In The Economy“ (ROME) und Präsident des Ludwig von Mises Institut Deutschland. Er ist zudem Gründungsmitglied und Partner von Polleit & Riechert Investment Management LLP. Die private Website von Thorsten Polleit ist: www.thorsten-polleit.com. Hier Thorsten Polleit auf Twitter folgen.

 

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