Stabilisierungssklerose: Vom Interventionismus zur Zombiewirtschaft

3. Juni 2020 – von Michael von Prollius

Michael von Prollius

Der Begriff „Bifurkation“ bezeichnet eine qualitative Änderung eines Systems unter dem Einfluss eines Parameters. Im Volksmund entspricht dem in etwa die Redensart „Das Faß zum überlaufen bringen“. Ludwig von Mises (1881 – 1973) stellte in seinen „Untersuchungen zur Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsideologie der Gegenwart“, die 1929 unter dem Titel „Kritik des Interventionismus“ erschien, eingangs zwei gleichermaßen zeitlose wie aktuelle Fragen (S. 3):

„Welche Wirkungen haben obrigkeitliche und andere Machteingriffe in einer auf dem Sondereigentum an den Produktionsmitteln aufgebauten Gesellschaftsordnung?“ 

„Können derartige Eingriffe den Erfolg erzielen, den sie anstreben?“

Nach der Lektüre eines gerade erschienen Buches kommt man zu dem Schluss, dass die jahrzehntelangen obrigkeitlichen Eingriffe in Wirtschaft und Gesellschaft Deutschland zu einem Bifurkationspunkt geführt haben könnten. Die Eingriffe haben demnach nicht den angestrebten Erfolg, selbst wenn es zwischenzeitlich so schien. Das Buch stammt von Alexander Horn und trägt den Titel „Die Zombiewirtschaft. Warum die Politik Innovation behindert und die Unternehmen in Deutschland zu Wohlstandsbremsen geworden sind“. Während der Lektüre drängt sich der Eindruck auf, dass die permanente Stabilisierungspolitik zu einer Sklerose der Wirtschaft geführt hat – der Interventionismus zu einer Zombiewirtschaft, allerdings anders als Mises zu seiner Zeit postulierte nicht zum Sozialismus mit seiner Aufhebung des Privateigentums und der Steuerung von Güterproduktion und -verteilung.

Breite Diskussion überfällig

Gleich vorweg: Ich halte das Buch für einen wichtigen Diskussionsanstoß und daher für lesens- und besprechenswert. Ich wünsche mir, dass eine politische Debatte in Gang kommt: über die Zombiewirtschaft, unsere Wohlstandsillusion und die Ursachen.

Alexander Horn, selbständiger Unternehmensberater und Geschäftsführer beim Politikmagazin Novo, identifiziert drei Trends, die insbesondere Deutschland, darüber hinaus auch erhebliche Teile der westlichen Welt kennzeichnen:

  1. Sinkendes Produktivitätswachstum. Das bedeutet, Unternehmen haben die Fähigkeit und ihr Management die Anreize verloren, die Arbeitsproduktivität hinreichend zu steigern. Die Folge ist eine allmähliche Stagnation, auch des Lebensstandards der einfachen Bürger.
  2. Ausgereizte Niedrigzinspolitik. Das bedeutet, dass die Zentralbanken keinen Wirtschaftsaufschwung mehr bewirken können und die Staatsführungen über noch mehr Interventionismus und Fiskalpolitik nominales Wirtschaftswachstum herbeiführen wollen.
  3. Entpolitisierung und Delegation politischer Gestaltung an Experten. Das bedeutet, die Volkssouveränität ist verloren gegangen und Experten, nicht einmal die gewählten Volksvertreter, gestalten zunehmend Wirtschaft und Gesellschaft.

Warum wünsche ich mir eine Debatte? Weil diese drei Trends, wenn sie zutreffen, für viele Menschen erhebliche Folgen hätten. Daher gilt es sie zu überprüfen, zu untermauern oder zu relativieren. Es gibt noch einen weiteren Grund, den Mises bereits vor über 90 Jahren in seiner Kritik des Interventionismus beschrieb und der zu unserer heutigen Zeit passt:

Die grundsätzlichen Probleme des Interventionismus werden überhaupt nicht erörtert. Wer auch nur schüchtern das ‚ob‘ der Beschränkung der Verfügungsgewalt der Kapitalisten und Unternehmer zu bezweifeln wagt, wird als Söldling im Dienste von der Gesamtheit schädlichen Sonderinteressen geächtet oder im günstigsten Falle mit stillschweigender Verachtung gestraft. (S. 17)

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Zombifizierung

Aus liberaler Perspektive leben wir heute in einer Sozialstaatswirtschaft – mit Zombies statt Champions. Die Zahl der Zombies nimmt kontinuierlich zu und macht nach Alexander Horn bereits einen zweistelligen Prozentsatz der Unternehmen aus. Wir leben in einer Angestelltengesellschaft mit Unternehmern als notwendigem Übel. Bequem und risikolos, möglichst um die Freizeit herum drapiert soll der Job sein. Stabilität ist das Primat. Die Marktwirtschaft gilt als Problem, der Staat als Lösung. Unternehmen sollen soziale Verantwortung übernehmen, Gewinne sind verpönt.

Mit dem Stabilitätsgesetz von 1967 hat der Staat offiziell die Verantwortung für die Wirtschaft übernommen. Neben neuen Informations- und Planungsinstrumenten wurde ein ganzes Arsenal konjunkturpolitischer Instrumente geschaffen, um die konkurrierenden Ziele Vollbeschäftigung bzw. hoher Beschäftigungsstand, Preisstabilität bzw. Geldwertstabilität, außenwirtschaftliches Gleichgewicht im Sinne eines Leistungsbilanzgleichgewichts und stetiges, angemessenes Wirtschaftswachstum zu erreichen. Boom und Bust sollten gedämpft, wenn nicht beseitigt werden. Dieses „Grundgesetz der Wirtschaft“ hat die gesteckten Ziele nie erreicht, aber die Neukonzeption der Wirtschaftspolitik blieb keineswegs folgenlos.

Nach Alexander Horn sind 50 Jahre später Stagnation und Abstieg zu beobachten. Deutschland stagniert, bei vermeintlich ordentlichen ökonomischen Kennzahlen, wenn auch nur noch marginalem Wachstum. Teile der Bevölkerung verlieren bereits ihren Lebensstandard. Das ist insbesondere die untere Mittelschicht. Alexander Horn zeigt facettenreich auf, dass Kapital im Überfluss vorhanden ist, aber nicht für produktive Investitionen genutzt wird. Ohne Investitionen keine Innovationen. Die Arbeitsproduktivität stagniert, sinkt in einigen Branchen, ist im letzten Jahrzehnt so niedrig wie nie zuvor. Der Trend zeigt bereits seit den 1960er Jahren abwärts. Deutschland exportiert Güter und das Kapital gleich mit. Die Perspektive ist demnach die Sklerose, nicht der Crash.

Liegt das an der zunehmenden Verstaatlichung von Wirtschaft und Gesellschaft? Der Zwang zur Beachtung des Vorsorgeprinzips, Corporate Social Responsibility und Finanzialisierung, d.h. vereinfacht Geld verdienen mit Finanzprodukten statt wertschöpfende Gütern zu produzieren, gehören zu den anschaulich beschriebenen Treibern der Zombifizierung.

Auch die Finanzkrise von 2008 erklärt Horn anteilig mit der Produktivitätsstagnation. Die vermeintliche Sparschwemme sei tatsächlich eine Investitionsschwäche gewesen:

Da die Vermögenspreise zwar stiegen, die wertschöpfende Basis aufgrund schwächelnder Investitionen jedoch kaum durch die Einführung von produktivitätssteigernden Innovationen verbessert wurde, klafften Realwirtschaft und Finanzwirtschaft immer weiter auseinander, was das System destabilisierte.

Fatales Menschenbild

Gesellschaftspolitisch beflügelt für den Novo-Herausgeber ein zunehmender Anti-Humanismus diese Entwicklung: Der Mensch wird als hilfsbedürftiges, zu betreuendes Wesen gesehen, der sein Leben nicht selbständig gestalten kann und vor gefährlicher Technik und allen Risiken dieser Welt geschützt werden muss. Wilhelm Röpke warnte bereits vor mehr als einem halben Jahrhundert vor der „Verhausschweinung“ des Menschen und einer „komfortablen Stallfütterung“. Damit einher geht ein Demokratiedefizit, da sich die Eliten vom Souverän gelöst haben, den sie betreuen und bewirtschaften oder dies einer Expertokratie überlassen, die angeblich am besten weiß, was zu tun ist.

Das passt nicht nur zur Kritik des Antikapitalismus, die Ludwig von Mises vorgelegt hat, sondern auch zum problematischen Etatismus in geistiger Hinsicht sowie der Praxis einer sich unaufhörlich drehenden Interventionsspirale: So führt die Sehnsucht nach einem übermächtigen Staat zusammen mit der Illusion von einem allmächtigen Staat zu immer mehr staatlichen Eingriffen mit regelmäßig kontraproduktiven Folgen. Schließlich zwingen die Eingriffe die Menschen sich so zu verhalten wie sie es aus wohl verstandenem Eigeninteresse nicht tun würden.

Bifurkationspunkt überschritten?

Steht Deutschland in erheblichen Teilen am Ende seiner industriellen Produktivität? Führt die allfällige Stabilisierung, die Vermeidung von (reinigenden) Krisen, die Rettung vielfach nicht überlebensfähiger Unternehmer, die als Zombies keine produktiven, innovativen Beiträge mehr leisten, die keinen Wettbewerb mehr schüren können, aber Arbeitskräfte und Kapital binden zum Ausbruch der Sklerose?

Die Bedeutung der Realwirtschaft sinkt kontinuierlich, die der Finanzwirtschaft steigt und zieht selbst Naturwissenschaftler an, die eigentlich der Industrie zu Innovationssprüngen verhelfen könnten. Die Stabilisierung destabilisiert, lässt Wohlstandsgrundlagen erodieren.

Verschuldung ohne Modernisierung, Stimulanz ohne Investition, aber mit Aktienrückkäufen.

Die Angst vor einer Reform des Schneeballsystems mit schwachen Unternehmen, schwachen Banken, reformaversen Staatsführungen bietet keine gute Perspektive. Die Marktwirtschaft hat kein Zuhause mehr. Im Vodoo bezeichnet ein „Zombie astrale“ eine Seele, die von ihrem Körper getrennt ist. Die Perspektive ist demnach heute die der Zombifizierung. Es droht eine Stabilisierungssklerose, nicht der Marsch in den Sozialismus, wie noch zu Lebzeiten von Mises.

Diskussion über Zombies statt Sozialismus

Bis zur Finanzkrise 2007 wurde in Deutschland intensiv über Strukturreformen diskutiert. Alexander Horn nimmt diesen Faden wieder auf. Eine gesellschaftliche Debatte ist überfällig. Das Buch bietet jede Menge Denkanstöße und Ansatzpunkte für Erweiterungen, Bekräftigungen, Korrekturen. Das Buch birgt Sprengkraft:

Die magische Wirkung des Kapitalismus, die darin bestand, den Wohlstand der Massen enorm zu steigern, ist in den entwickelten Volkswirtschaften inzwischen versiegt. Sie sind zu Zombiewirtschaften geworden.

Zwei ergänzende Beiträge zur Österreichischen Krisenerklärung und der Rentabilitätskrise aus der Sicht von Karl Marx sind zusätzlich enthalten. Über allem steht die Frage: Wie können Politik und Unternehmen aus der Zombifizierung aussteigen, so dass Innovationen sich wieder entfalten können?

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Alexander Horn: Die Zombiewirtschaft. Warum die Politik Innovation behindert und die Unternehmen in Deutschland zu Wohlstandsbremsen geworden sind, mit Beiträgen von Michael von Prollius und Phil Mullan, Edition Novo, Band 129, 1. Auflage Frankfurt 2020, 378 S., 15,00 Euro.

Dr. Michael von Prollius ist Publizist, Gründer von Forum Freie Gesellschaft (www.forum-freie-gesellschaft.de). Die Internetplattform widmet sich der Wiederbelebung und Weiterentwicklung von klassischem Liberalismus und Österreichischer Schule. Er ist Autor zahlreicher Veröffentlichungen zum Geldsystem, zur Wirtschafts- und Ideengeschichte und zu wirtschaftspolitischen Themen. Seine Beiträge und Rezensionen erscheinen in wissenschaftlichen Zeitschriften, aber auch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Fuldaer Zeitung, der Neuen Zürcher Zeitung und im Schweizer Monat. Michael von Prollius leitet den Wissenschaftskreis der Friedrich August von Hayek Gesellschaft und ist assoziierter Forscher beim Liberalen Institut (Schweiz).

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Hinweis: Die Inhalte der Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Ludwig von Mises Institut Deutschland wieder.

Foto: Adobe Stock

 

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