ESM: ein Trojanisches Pferd zur Entmachtung der nationalen Parlamente

9.7.2012 – von Thorsten Polleit.

Prof. Dr. Thorsten Polleit

Der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) – wie er gemäß dem „Vertrag zur Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM)“ ausgestaltet sein soll – erweckt den Anschein, ein betragsmäßig begrenztes Instrument zur „Bekämpfung“ der Schuldenkrise im Euroraum zu sein und unter der Kontrolle der nationalen Parlamente zu stehen. Doch das ist ein Trugschluss.[1]

Der ESM-Vertrag verlagert die Budgethoheit von den Nationalstaaten auf die europäische Bürokratieebene. Diese Wirkung des Vertragswerkes mag nicht sofort ins Auge springen, schließlich haben seine Verfasser ganze Arbeit geleistet, um das wahre Gesicht des Vertrages zu verbergen.

Der ESM-Vertrag würde Deutschland verpflichten, wenn er denn ratifiziert wird, sich am Betrag des einzuzahlenden Kapitals des ESM in Höhe von 80 Mrd. Euro mit rund 22 Mrd. Euro zu beteiligen. Darüber hinaus würde eine Beteiligung am Gesamtbetrag des abrufbaren Kapitals des ESM in Höhe von 620 Mrd. Euro mit rund 168 Mrd. Euro zugesagt.

Wie funktioniert der ESM? Die Entscheidungsgremien des ESM sind der Gouverneursrat und das Direktorium (Art. 5 und Art. 6 des ESM-Vertrags).

Die Beschlussfähigkeit von Gouverneursrat und Direktorium ist gegeben, wenn 2/3 der Stimmen anwesend sind. Die Anwesenheit Deutschlands, das den größten Teil in Höhe von 27,14% des ESM-Kapitals einzuzahlen hat, ist damit gar nicht erforderlich! Schon bei einer Anwesenheitspflicht von 3/4 wäre eine Anwesenheit Deutschlands verpflichtend gewesen – aber das wollten die Vertragsverfasser wohl vermeiden.

Die Mitglieder des Gouverneursrats werden von den Regierungen der ESM-Mitgliedsländer entsandt, und die Mitglieder des Gouverneursrats wiederum ernennen die Mitglieder des Direktoriums. Doch nicht etwa der Gouverneursrat ist das eigentlich machtvolle Gremium des ESM, sondern das Direktorium.

Die national-parlamentarische Verankerung des Gouverneursrats als Kontrollorgan entpuppt sich vielmehr als reine Augenwischerei. Der Gouverneursrat dient vielmehr dazu, das Direktorium, in dem die eigentliche Macht liegt, faktisch von der Kontrolle der nationalen Parlamente abzuschirmen. Das zeigt sich recht ungeschminkt bei dem wohl wichtigsten Aspekt: dem zusätzlichen Kapitalabruf durch den ESM.

Hierüber entscheidet zwar formal nach Art. 5 Abs. 6c der Gouverneursrat im „gegenseitigen Einvernehmen“. Nach Art. 9 Abs. 2 kann jedoch das Direktorium mit einfacher Mehrheit – also auch gegen die deutsche Stimme – den Kapitalabruf selbst vornehmen, wenn ein Verlust entstanden ist. Dies ist zum einen eine sehr auffällige Abweichung vom in Art. 6 Abs. 5 geregelten normalen Zustimmungsbedarf von 80% der Stimmen.

Zum anderen macht es stutzig, dass der ESM-Vertragstext nichts darüber aussagt, was ein „Verlust“ eigentlich ist. Ihn festzustellen obliegt vielmehr der Diskretion des Direktoriums (Art. 9 Abs. 4). Letzteres kann zum Beispiel den Erwerb einer Staatsanleihe – unabhängig von ihrem Kauf- und Marktwert – als Verlust gemäß einer Einnahmen-Ausgabenrechnung feststellen.

Faktisch erhält das Direktorium so einen Anspruch auf einen unlimitierten Geldbetrag, den er ohne Zustimmung der nationalen Parlamente von jedem ESM-Mitglied, das noch zahlungsfähig ist, abfordern kann. Mit anderen Worten: Das Direktorium hat Anspruch auf das Nachfüllen des Glases, das er austrinkt – und damit gehört ihm faktisch das Fass des Wirtes, der verpflichtet ist, das leere Glas nachzuschenken.

Anders als vielfach gedacht, ist der ESM volumensmäßig nach oben auch nicht beschränkt. Art. 8 Abs. 2 gibt dem Gouverneursrat die Möglichkeit, ein beliebig hohes Aufgeld (Agio) zu erheben, und zwar bei „besonderen Umständen“, die aber nicht inhaltlich definiert werden.

Das bedeutet ein betragsmäßig unbegrenztes Agio: Mit den letzten 100 Euro genehmigtes Stammkapital könnten 10 Billionen Euro eingefordert werden! Auch ohne Mitwirkung Deutschlands kann eine beliebige Haftungssumme formal korrekt erreicht werden.

Die Mitglieder des Gouverneursrates und des Direktoriums genießen nach Art. 35 persönliche Immunität in Bezug auf ihre Amtshandlungen, Schriftstücke und Unterlagen. Nach Art. 34 unterliegen sie der Schweigepflicht.

Die deutschen Vertreter im ESM dürfen also den Deutschen Bundestag gar nicht unterrichten beziehungsweise können eine Unterrichtung unter Verweis auf ihre Schweigepflicht ablehnen. Ein parlamentswidriges Abstimmen eines nationalen Vertreters im ESM kann auch nicht durch nationales Recht geahndet werden.

Sollte ein Land die Auflagen der gewährten Hilfeleistung nicht einhalten, können die Hilfe gebenden Länder keine Einstellung der Hilfe bewirken, diese Entscheidung fasst allein das Direktorium (Art. 14). Der Gouverneursrat hat keine Möglichkeit, die Zahlungen zu stoppen, ein einzelnes Mitglied sowieso nicht.

Der ESM-Vertrag öffnet durch Art. 21 die Tür, eine unbeschränkte Schuldenfinanzierung durch die Europäische Zentralbank (EZB) abzuwickeln. In der Praxis würde es entweder so laufen, dass der ESM Anleihen begibt, diese an private Banken verkauft, die wiederum zum Kauf neues Geld von der EZB bekommen. Oder der ESM, wenn er erst einmal etabliert ist und Kredite braucht, erhält eine Banklizenz mit direktem Zugang zu billigem EZB-Geld. Das, was im Maastricht-Vertrag ausgeschlossen werden sollte, stellt der ESM also in Aussicht: Die EZB finanziert die Staatsschuld mit der Notenpresse.

Der ESM ist ein Trojanisches Pferd, um den nationalen Parlamenten ihre Budgethoheit zu nehmen – und zwar durch vertragsmäßige Überrumpelung, wie es scheint. Er entspringt im Kern dem Geist, der ein zentralistisch-sozialistisches Europa schaffen will, ein Europa, das viele Nationalbürger, einschließlich der Deutschen, vermutlich nicht wollten, als ihre nationale Währung in den Euro (zwangs)umgetauscht wurde.

[1] Der „Vertrag zur Errichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM)“ kann beim deutschen Bundesfinanzministerium eingesehen werden. Klicken Sie hier: ESM-Vertrag.

Dieser Beitrag ist am 29.6.2012 im Degussa-Marktreport erschienen.

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Thorsten Polleit, 44, ist Chefökonom der Degussa Goldhandel GmbH und Honorarprofessor an der Frankfurt School of Finance. Er ist Adjunct Scholar am Ludwig von Mises Institute, Auburn, US Alabama, und Mitglied der Friedrich August von Hayek Gesellschaft. In 2012 erhielt er den P. Alford III Prize in Libertarian Scholarship. Seine Website ist: www.thorsten-polleit.com.

 

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