Politik oder Frieden

30.11.2016 – Was sich von Hobbes über Freiheit lernen lässt

von Rolf W. Puster.

Rolf W. Puster

Die Frage, wie ein Staat eingerichtet sein soll, wurde bis zur Neuzeit stets in einem normativen Sinne verstanden: Jede Blaupause für ein Gemeinwesen musste sittlichen oder religiösen Forderungen genügen. Das ändert sich erst im Jahre 1651 mit dem Werk Leviathan, in welchem sein Autor Thomas Hobbes jener Frage eine radikal andere Interpretation gibt. Das tut er deshalb, weil er ein Phänomen ernstnimmt, das auch unsere heutige Welt kennzeichnet: das Phänomen des Pluralismus der Religionen, Weltanschauungen und Moralvorstellungen. Und da er diesen Pluralismus richtigerweise weder für praktisch belanglos noch für theoretisch überwindbar hält, sieht er keine realistische Chance dafür, auf grundlegende normative Fragen universell konsensfähige Antworten zu finden.

Konsequenterweise tritt Hobbes dafür ein, die Frage nach der richtigen Staatseinrichtung nicht mehr länger als eine zu verstehen, die einer normativen Antwort bedarf. Er versteht sie vielmehr als die Frage danach, in welcher Gestalt der Staat als Mittel zu einem Zweck taugt, also als eine technologische Tatsachenfrage, die sich ungeachtet normativer Differenzen prinzipiell einvernehmlich beantworten lässt.

In einem daran anschließenden gedanklichen Schritt macht Hobbes klar, dass Zwecke (ebenso wie Ziele) nur insofern in der Welt sind, als es wollende Akteure gibt, durch deren Wollen ein (noch nicht bestehender) Zustand der Welt zum Zweck, nämlich zum Handlungszweck wird. Eine Welt ohne wollende und ihr Wollen realisierende Akteure wäre eine Welt ohne Zwecke. Daher kann man die Frage nach der Zweckdienlichkeit des Staates nicht beantworten, ohne etwas Gewolltes namhaft zu machen, zu dessen Realisierung der Staat als Mittel in Betracht kommt. Und weil der Staat eine Vielzahl von Akteuren einschließt, fahndet Hobbes nach einem Zweck, an dessen Verwirklichung jedem Akteur gelegen ist.

Da ein Zweck am reinsten vor seiner Verwirklichung vor Augen steht, imaginiert Hobbes einen vorstaatlichen Naturzustand, welcher durch den Kampf um knappe Güter gekennzeichnet ist. Die Tabulosigkeit, mit der dieser Kampf geführt wird, macht den Naturzustand unerträglich; er ist ein Krieg aller gegen alle, in welchem jeder jedem ein Wolf ist oder werden kann. Vor diesem kriegerischen Hintergrund macht Hobbes als den einzigen Punkt, in dem sich das Wollen eines jeden Akteurs wiederfindet, den Frieden aus, und darum sieht er in der Schaffung und Sicherung von Frieden die einzige Aufgabe, deren Erfüllung als Staatszweck schlechthin gelten kann.

Es gehört zu den offenbar unausrottbaren Fehlinterpretationen des Leviathan, den Naturzustand nicht allein als Zustand des Unfriedens zu sehen, sondern auch als Veranschaulichung der verheerenden Folgen ungezügelter Freiheit. Versteht man jedoch (ganz traditionell) unter Freiheit den Zustand, in dem man von anderen nicht zwangsweise daran gehindert wird, seine Ziele zu realisieren, so wird evident, dass der Naturzustand kein Zustand der Freiheit ist. Denn völlig zutreffend wird er von Hobbes als ein Zustand beschrieben, in welchem Ackerbau, Seehandel, Wissenschaft und Künste zum Erliegen kommen. Viele Ziele lassen sich im Naturzustand aufgrund des von anderen Akteuren ausgehenden Zwangs nicht (oder nur durch Glück und Zufall) realisieren. Naturzustand und systematischer Handlungserfolg schließen sich aus. Die Flucht aus dem Naturzustand ist mithin nicht die Flucht aus zu viel Freiheit in ein geringeres Maß an Freiheit, sondern die Flucht aus einem unfriedlichen, Freiheit verunmöglichenden Zustand in einen friedlichen, Freiheit ermöglichenden Zustand.

Selbst Räuber und Mörder zögen, wenn sie die Wahl hätten, eine friedliche Gesellschaft dem Naturzustand vor: Denn das erfolgreich Geraubte genießt sich unbeschwerter ohne die Furcht, von anderen beraubt zu werden, und der Mordlustige schreitet lieber in einem Umfeld zur Tat, in welcher er nicht in der Gefahr steht, auf dem Weg zu seinem Opfer selbst gemeuchelt zu werden.

Diese epochalen Einsichten von Hobbes wurden freilich nicht erst von seinen Interpreten verdunkelt, sondern schon von ihm selbst. Seine nachvollziehbare Idee, dass die Wölfe des Naturzustands zum Zwecke der Friedenssicherung ihre Zähne und Klauen abgeben und dem Staat das Gewaltmonopol übertragen, buchstabiert er uneinleuchtenderweise als die Schaffung eines konkurrenzlosen Machtungeheuers aus, dessen Tun keinerlei Einschränkungen unterliegt. Damit bleibt das liberale Potenzial von Hobbesʼ Friedensansatz unentfaltet.

Reduziert man die Aufgabe der Friedenssicherung auf ihren bei Hobbes angelegten sachlichen Kern, so besteht sie (neben der Landesverteidigung gegen äußere Feinde) im wesentlichen darin, einigen wenigen Verhaltensregeln Geltung zu verschaffen, die geeignet sind, die handfesten Gefahren zu bannen, die im Naturzustand dem Leben, der körperlichen Unversehrtheit sowie Hab und Gut drohen. Die Durchsetzung dieses schmalen Katalogs von Verhaltensregeln kann von Justiz und Polizei geleistet werden. Das, was wir als Politik kennen, ist bei Hobbes kein Bestandteil der Friedenssicherung.

Lässt man die institutionellen Aspekte der Politik (polity) ebenso beiseite wie die Prozesse, in denen sie sich real abspielt (politics), so versteht man unter Politik vor allem die inhaltliche Bestimmung von Zielen, wie sie sich beispielweise in Partei- und Wahlprogrammen niederschlagen (policy). Das letztgenannte Verständnis lohnt einen näheren Blick durch die Brille von Hobbesʼ Einlassungen zum Frieden.

Friedenssicherung gilt heutzutage als ein politisches Minimalziel, das nur im Falle von Krieg und Bürgerkrieg überhaupt auf die politische Agenda gelangt. Im allgemeinen pflegt man politische Ziele jedoch höher zu stecken: Der Ehrgeiz der politisch Tätigen gilt dem Vernehmen nach der Verwirklichung so hehrer Zwecke wie Gleichheit, Gerechtigkeit oder Nachhaltigkeit. Doch selbst dann, wenn man all diese wohlklingenden Verlautbarungen für bare Münze nimmt, behält die Perspektive von Hobbes einen Stachel: Der Naturzustand hatte so lange Bestand, als niemand ein Mittel sah, die konfliktträchtige Vielstimmigkeit des Wollens in erträgliche Bahnen zu lenken. Erst die Entdeckung der (sogar Räuber und Mörder einschließenden) Einstimmigkeit, mit der Frieden gewollt wird, gab das gesuchte Mittel zur Überwindung des Naturzustands an die Hand: den Staat als Friedenssicherer.

Wenn ein Staat anfängt, Politik zu machen, also Ziele zu verfolgen, die nicht von allen gebilligt werden, dann hört er auf, diejenige befriedende Neutralität walten zu lassen, in der sein Geburtsrecht liegt. Politik zu treiben, heißt Partei zu ergreifen und das Wollen einiger zur Richtschnur für alle zu erheben. Die Durchsetzung von parteiergreifender Politik geht immer mit der Beugung des Wollens derer einher, gegen die sich jene Parteiergreifung richtet. Unter dem Strich betrachtet, üben somit einige Bürger mit Hilfe des Staates Zwang auf andere Bürger aus. Der rechtfertigende Verweis auf demokratische Entscheidungsprozesse ändert hieran nichts; er taugt bestenfalls dazu, das Faktum der permanenten und massenhaften Wollensbeugung durch staatlich betriebene Politik ideologisch zu übertünchen.

In einem Staat (auch und gerade in einem modernen demokratischen Rechtsstaat) sind die Opfer parteiischer Politik gegen die Beugung ihres Wollens weitaus wehrloser, als sie es im Naturzustand wären. Sie sind dazu verurteilt, den politisch unterstützten Wölfen nicht mehr als Wölfe, sondern nur noch als Lämmer gegenüberzutreten. So ist beispielweise der Zwang, mit dem erfolgreichen Akteuren heute die Früchte ihrer Arbeit genommen und in andere Taschen geleitet werden, flächendeckender und effektiver, als er es in einem archaischen Naturzustand je hätte sein können.

Die Hobbesʼsche Idee der Friedensschaffung besteht darin, jedermanns Fähigkeit, das Wollen anderer zu beugen, zugunsten einer Zentralinstanz zu minimieren, deren geballtes Wollensbeugungspotential indes nur dann harmlos ist, wenn sie dem friedfertigen Wollen ihrer Bürger indifferent gegenübersteht. Wenn jedoch das staatliche Gewaltmonopol zum Werkzeug politisch motivierter Parteilichkeit wird, dann verliert jene Idee ihre eigentliche Pointe, und hinter der Fassade des ‚friedlichen’ Staates brechen erneut die Frontlinien des kriegerischen Naturzustandes auf.

Das im Geiste Hobbesʼ entworfene Gegenmodell ist ein politikabstinentes Gemeinwesen. Es sorgt dafür, dass das Handeln aller Akteure in friedlichen Bahnen verläuft, und es legt damit den Grundstein dafür, dass jeder Akteur seine Ziele ungehindert verfolgen kann. Die Abwesenheit von allem Zwang, der nicht der Aufrechterhaltung des Friedens dient, schließt selbstverständlich die — das Herzstück des freien Marktes ausmachende — Freiheit zu jedweder Kooperation mit anderen Akteuren ein. Denn Kooperation bedarf keiner anderen Legitimation als der Freiwilligkeit, mit der sie eingegangen wird.

Die moralische Missbilligung von Kooperationen durch außenstehende Dritte liefert keinen unparteiisch einsehbaren Grund, sie zu unterbinden, da die Beschwörung moralischer Standards in einer pluralistischen Welt keinen Trumpf in die Hand gibt, der alle anderen Karten sticht. Aus dem gleichen Grund führt es nicht weiter, für die eigenen moralischen Intuitionen objektive Gültigkeit zu reklamieren und alle anderen für fehlgeleitet zu erklären.

Die einzige Utopie, deren Verwirklichung nicht auf parteiergreifendem Zwang basiert, die Utopie eines freien, nach außen wie innen friedlichen Gemeinwesens, blieb historisch unverwirklicht. Allen Versuchen, diesem geschichtlichen Mangel durch die Neugründung politikverbannender Gemeinwesen — von der Art, wie sie Titus Gebel mit seinem Projekt Freie Privatstädte plant — abzuhelfen, werden sich die Profiteure der herrschenden Verhältnisse mit aller Macht widersetzen. Doch das spricht keineswegs gegen, sondern ganz entschieden für solche Versuche.

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Dieser Beitrag ist am 28.11.2016 zuerst erschienen auf der Internetseite „Deutscher Arbeitgeberverband“.

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Prof. Dr. Rolf W. Puster ist Professor für Philosophie an der Universität Hamburg. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen die Geschichte der Philosophie, die theoretische und praktische Philosophie John Lockes sowie Tradition und Theorie des Liberalismus. In Vorbereitung ist sein Buch “Freiheit — die unverstandene Idee. Ein Kompass” (2017).

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Hinweis: Die Inhalte der Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Ludwig von Mises Institut Deutschland wieder.

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