Die Anwendung von Wissen in der Gesellschaft (Teil 2)

28.9.2016 – Der folgende Beitrag Die Anwendung von Wissen in der Gesellschaft von Friedrich A. von Hayek wird hier in drei Teilen veröffentlicht. Er ist zuerst erschienen in der Septemberausgabe 1945 von The American Economic Review – hier finden Sie den englisch-sprachigen Originalbeitrag The Use of Knowledge in Society. Teil 1 wurde am 21.9.2016 veröffentlicht, Sie finden ihn hier, Teil 3 folgt am 5.10.2016.

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Die Anwendung von Wissen in der Gesellschaft (Teil 2)

IV.

Friedrich August von Hayek (1899 – 1992)

Heute ist es Mode, die Bedeutung des Wissens um die bestimmten Umstände von Zeit und Ort herunterzuspielen; dies steht in engem Zusammenhang mit der geringeren Bedeutung, die Veränderungen an sich beigemessen wird. In der Tat gibt es einige Punkte, auf denen die Annahmen (gewöhnlich unausgesprochen) der „Planer“ basieren, die sich von denen ihrer Kontrahenten unterscheiden, im Hinblick auf die Bedeutung und Häufigkeit von Veränderungen, welche wesentliche Umgestaltungen von Produktionsplänen notwendig machen. Wenn natürlich detaillierte Produktionspläne für sehr lange Zeit im Voraus ausgearbeitet werden könnten und man sich genau an diese halten könnte, so dass keine weiteren wichtigen, wirtschaftlichen Entscheidungen benötigt würden, dann wäre die Aufgabe, einen ausführlichen Plan aller Wirtschaftsaktivitäten zu erstellen, weit weniger beeindruckend.

Vielleicht ist es nützlich hervorzuheben, dass wirtschaftliche Probleme immer und nur als Folge von Veränderungen entstehen. So lange sich Dinge weiter entwickeln wie zuvor, oder zumindest entwickeln wie erwartet, bedarf es keiner neuen Entscheidungen und es entsteht kein Bedarf, einen neuen Plan zu formulieren. Der Glaube, Veränderungen seien in der neueren Zeit weniger bedeutend geworden, impliziert die Behauptung, ökonomische Probleme seien ebenfalls unwichtiger geworden. Genau aus diesem Grund glauben diejenigen, die meinen, Veränderungen wären nicht mehr notwendig, dass auch ökonomische Überlegungen durch die wachsende Bedeutung technologischen Wissens in den Hintergrund gerückt seien.

Ist es wahr, dass mit dem ausgefeilten System der modernen Produktionsweise ökonomische Entscheidungen nur in langen Intervallen benötigt werden, nur weil eine neue Fabrik errichtet oder ein neuer Produktionsprozess eingeführt wird? Ist es richtig, dass – ist eine Fabrik einmal errichtet – der Rest mehr oder weniger mechanisch, bestimmt durch den Charakter der Fabrik abläuft, und wenig zu ändern übriglässt, während sich die äußeren Umstände ständig verändern?

Dieser ziemlich weitverbreitete und bestätigte Glaube ist nicht, soweit ich das feststellen kann, aus der praktischen Erfahrung des Unternehmertums heraus entstanden. In einer konsequent wettbewerbsorientieren Industrie –  und nur so eine Industrie kann als Test dienen – erfordert die Aufgabe, Kostensteigerungen zu vermeiden, permanente Anstrengung, die einen großen Teil der Energie des Geschäftsführers absorbiert. Wie leicht ist es doch für einen ineffizienten Manager, die Faktoren zu vernachlässigen, auf denen die Rentabilität ruht, und dass es möglich ist, mit den gleichen technischen Gegebenheiten zu Kosten großer Variabilität zu produzieren, liegt an den allgemeingültige Erfahrungen aus der Realwirtschaft, die dem Ökonomen nicht unbedingt geläufig zu sein scheinen. Der starke, pausenlose und konsequente Drang von Herstellern und Ingenieuren zur Reduzierung der Kosten ist ein sprechendes Zeugnis für das Ausmaß, wie sehr diese Faktoren die tägliche Arbeit bestimmen.

Ein Grund, warum Wirtschaftswissenschafter mehr und mehr dazu neigen, die kleinen Änderungen, die aber das wirtschaftliche Umfeld ausmachen, zu vergessen, ist ihre zunehmende Beschäftigung mit statistischen, mathematischen Methoden, die eine viel größere Stabilität aufweisen als Detailbewegungen. Die verhältnismäßige Konstanz der Variablen kann aber nicht – wie Statistiker manchmal glauben – dem „Gesetz großer Zahlen“ oder der Wechselwirkung selbst marginaler Veränderungen Rechnung tragen. Die Anzahl der Elemente, mit denen wir es zu tun haben, ist nicht groß genug für solch zufällige Kräfte, um Stabilität zu erzeugen. Der unaufhörliche Fluss von Waren und Dienstleistungen wird durch permanente bewusste Anpassungen unterhalten, durch tägliche neue Anordnungen im Lichte von Umständen, die am vorherigen Tag unbekannt waren, durch den Eintritt von B, wenn plötzlich A nicht liefern kann. Selbst die große, durch und durch hochspezialisierte Fabrik bleibt Großteils wegen eines Umfeldes in Betrieb, aus dem heraus sich alle unerwarteten Bedürfnisse bedienen lassen; Ziegeln für das Dach, Briefpapier und alle die tausend und eins Arten von Gerätschaften, mit denen sie sich nicht selbst versorgen kann, deren ständige Verfügbarkeit aber für den Betrieb der Anlage benötigt werden.

Das ist jetzt vielleicht auch der Punkt, an dem ich kurz die Tatsache erwähnen sollte, dass diese Art von Wissen, über das ich schreibe, dasjenige ist, was naturgegeben nicht Eintritt in Statistiken findet und daher nicht zu einer zentralen Behörde in statistischer Form übermittelt werden kann. Die Statistiken, die eine zentrale Behörde verwenden müsste, könnten nur so aufgestellt werden, dass gerade von den kleineren Unterschieden zwischen den Dingen abstrahiert würde, indem sie als Vermögenswerte der gleichen Art Dinge zusammenwerfen würde, die sich in Bezug von Standort, Qualität und anderen Einzelheiten in einer Weise unterscheiden, die für die spezifische Entscheidung sehr bedeutsam wäre. Daraus ist der Schluss zu ziehen, dass auf statistische Information gestützte zentrale Planung von Natur aus nicht die Umstände von Zeit und Ort berücksichtigen kann und der zentrale Planer den einen oder anderen Weg finden muss, die davon abhängigen Entscheidungen dem „Mann vor Ort“ zu überlassen.

V.

Wenn wir zustimmen können, dass das wirtschaftliche Problem der Gesellschaft hauptsächlich eines der schnellstmöglichen Anpassungen an die besonderen Umstände von Zeit und Ort ist, wäre daraus zu schließen, dass die endgültige Entscheidung den Menschen überlassen werden muss, die mit diesen Gegebenheiten vertraut sind, die über die entscheidenden Veränderungen und über die augenblicklich zur Verfügung stehenden Ressourcen Bescheid wissen, um reagieren zu können. Wir können nicht erwarten, dass diese Probleme gelöst werden, wenn zuerst all dieses Wissen zu einer zentralen Stelle gemeldet wird, und nach Verarbeitung allen Wissens die Anordnungen erteilt werden. Wir müssen dies durch eine Form der Dezentralisierung lösen. Doch dies beantwortet nur einen Teil unseres Problems. Dezentralisation ist notwendig, weil wir nur so sicherstellen können, dass das Wissen um die besonderen Umstände von Ort und Zeit unmittelbar verwendet werden kann. Aber der „Mann vor Ort“ kann nicht alleine auf Basis seiner limitierten, aber gründlichen Kenntnis der Faktoren seines unmittelbaren Umfeldes entscheiden. Noch immer bleibt das Problem der Kommunikation der von ihm benötigten Informationen, um seine Entscheidungen in das gesamte Gefüge der Veränderungen eines größeren wirtschaftlichen Systems anzupassen.

Wie viel Wissen benötigt er, um erfolgreich zu sein? Welche Ereignisse, die hinter dem Horizont des unmittelbaren Wissens liegen, sind für seine Entscheidungen von Bedeutung, und über wie viele von ihnen muss er Kenntnis erlangen?

Es gibt kaum ein Ereignis auf der Welt, das keinen Effekt auf die von ihm zu treffenden Entscheidungen hätte. Aber weder von diesen Ereignissen an sich, noch von all deren Auswirkungen braucht er zu wissen. Es hat für ihn keine Bedeutung, warum in einem bestimmten Moment mehr Schrauben von einer Größe als von einer anderen nachgefragt werden, warum Papiertüten eher zu bekommen sind als Leinentaschen, oder warum Facharbeit oder bestimmte Werkzeugmaschinen im Moment schwerer erhältlich sind. Alles, was für ihn von Bedeutung ist, ist wie mehr oder weniger schwieriger es ist, benötigte Dinge im Vergleich zu anderen zu beschaffen, oder wie mehr oder weniger dringend alternative Produkte begehrt werden. Es ist immer eine Frage der relativen Wichtigkeit der verschiedenen Faktoren, und die Gründe, die die relative Wichtigkeit verändern, interessieren ihn über die Auswirkungen auf die konkreten Dinge in seiner Umgebung hinaus nicht.

Es ist in diesem Zusammenhang, was ich „wirtschaftliches Kalkül“ genannt habe, was uns, zumindest sinngemäß, akkurat bei der Lösung dieses Problems hilft, und es wird tatsächlich durch das System der Preisfindung, des Marktmechanismus im engeren Sinn, gelöst. Selbst ein einziger kontrollierender Kopf, in Besitz aller Daten für irgendein kleines in sich abgeschlossenes Wirtschaftssystem, würde nicht jedes Mal, wenn einige kleinere Anpassungen in der Verteilung von Ressourcen gemacht werden müssten, explizit alle Beziehungen der Ziele und Mittel, welche möglicherweise betroffen sind, betrachten. Es ist in der Tat ein großer Beitrag der reinen auf Logik basierenden Auswahl, die schlüssig gezeigt hat, dass selbst ein einziger Verstand dieses spezifische Problem durch die Aufstellung und permanente Benützung von Äquivalenzraten (oder „Werten“, oder „Grenzraten des Austausches“), z.B. durch Zuordnung jeder Art von knappen Ressourcen zu einem Zahlenindex, der nicht von irgendeiner Eigenschaft, die dieses Ding besitzt, ableitbar ist, lösen kann. Aber seine Bedeutung der Ziele und Mittel wird dort abgebildet, oder ist in diesem verdichtet, seine Bedeutung aus Sicht der ganzen Struktur der Mittel und Zwecke. Bei jeder kleinen Änderung wird er nur diese quantitativen Indizes (oder „Werte“) zu berücksichtigen haben, in denen jede maßgebliche Information konzentriert ist, und, durch die Abgleichung der Werte kann er seine Dispositionen neu anpassen, eine nach der anderen und ordnen, ohne das ganze Puzzle von Anfang an als Gesamtes lösen zu müssen oder ohne es permanent vollständig in all seinen Verzweigungen überblicken zu müssen.

Im Grunde genommen können Preise in einem System, in dem das Wissen der maßgeblichen Faktoren zwischen vielen Menschen verteilt ist, dazu dienen, die separaten Handlungen unterschiedlicher Akteure in gleicher Weise zu koordinieren, wie subjektive Parameter dem Einzelnen in der Koordination der Teile seines Plans hilfreich sind. Es lohnt, einen Moment lang über ein sehr einfaches und allgemeingültiges Beispiel der Wirkung des Preissystems nachzudenken, um seine genaue Bedeutung zu erkennen. Nehmen wir an, irgendwo in der Welt sei eine neue Möglichkeit für die Verwendung eines Rohstoffes, sagen wir Zinn, entstanden, oder es sei eine der Versorgungsquellen für Zinn verschwunden. Für unseren Zweck ist es bedeutungslos – und es ist sehr wichtig, dass es bedeutungslos ist -, welcher der beiden Gründe Zinn knapper gemacht hat. Alles, was die Verarbeiter von Zinn wissen müssen, ist, dass einiges von dem Zinn, das sie zu verarbeiten gewohnt waren, nun anderswo gewinnbringender in Verwendung ist und dass sie – als Konsequenz daraus – mit Zinn sparsam umgehen müssen. Für die große Mehrheit von ihnen ist es nicht einmal notwendig zu wissen, wo der dringendere Verbrauch entstanden ist, oder zu Gunsten welcher anderer Bedürfnisse sie mit dem Vorrat sparsamer umgehen müssen. Wenn nur einige von ihnen direkt um die neue Nachfrage wissen und Vorräte dorthin umleiten, und wenn die Menschen, die sich der neuen Lücke bewusst sind, es wiederum von anderen Quellen ersetzen, so wird sich dieser Effekt rasch durch das ganze Wirtschaftssystem hindurch verbreiten und nicht nur die gesamte Verwendung von Zinn betreffen, sondern auch seine Ersatzstoffe und die Ersatzstoffe der Ersatzstoffe betreffen, das Angebot aller aus Zinn hergestellten Dinge, und deren Ersatzstoffe, und so weiter; und all das passiert, ohne dass die große Mehrheit, die aber essenziell in der Bereitstellung der Ersatzstoffe ist, überhaupt irgendetwas über den ursprünglichen Grund für die Veränderung weiß.

Das Ganze funktioniert als ein Markt, nicht weil einer ihrer Mitglieder das ganze Geschehen überblickt, sondern weil sich ihre begrenzten individuellen Blickfelder derart ausreichend überschneiden, so dass über viele Vermittler die relevante Information allen zu Teil wird. Die einfache Tatsache, dass es einen Preis für jeglichen Rohstoff gibt – oder besser, dass aktuelle Preise zusätzlich auch durch die Transportkosten bedingt werden, usw. – bringt die Lösung hervor, zu der auch ein einzelner alle Informationen besitzender Kopf gekommen wäre (das ist aber nur als prinzipielles gedankliches Konzept möglich), Informationen, die in der Realwirtschaft unter allen an dem Prozess beteiligten Akteuren verteilt sind.

Die Anwendung von Wissen in der Gesellschaft (Teil 3) wird am 5.10.2016 veröffentlicht.

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Aus dem Englischen übersetzt von Dr. Peter Laszloffy.

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Friedrich A. Hayek absolvierte ein Studium der Rechtswissenschaften sowie der Staatswissenschaften. 1929 erfolgte seine Habilitation an der Universität Wien. Sein Lebensweg führte ihn an verschiedene Universitäten in London, New York, Chicago, Freiburg sowie Salzburg. In den Dreißigerjahren wurde Hayek zu einem Hauptkritiker des Sozialismus. 1974 erhielt er den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften. Als sein berühmtestes Werk gilt das 1944 zunächst in englischer Sprache erschienene „The Road to Serfdom” – „Der Weg zur Knechtschaft”.

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Hinweis: Die Inhalte der Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Ludwig von Mises Institut Deutschland wieder.

 

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