Anarchokapitalismus: Kritik an einer Kritik

15.2.2016 – von Karl-Friedrich Israel.

Ein Kommentar zum Buch Mythos Anarchokapitalismus, Edition Forum Freie Gesellschaft Bd. 6, Fürstenberg 2015, Helmut Krebs und Michael von Prollius

Karl-Friedrich Israel

Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Anarchokapitalismus. Nach Einschätzung zweier besorgter Beobachter sind seine Anhänger „problematische Persönlichkeiten“ und „weltfremde“ Dogmatiker „mit Hang zum Sektierertum“, die durch das „Abspulen von auswendig gelernten Anti-Staazi-Sätzchen“ auffallen. Sie schreiben: „Leider fällt es nicht nur schwer mit Anarchokapitalisten zu diskutieren. Weit überwiegend ist ein bereichernder Austausch nicht möglich.“ Für den aus ihrem persönlichen Blickwinkel nahezu aussichtslosen Versuch dennoch in einen solchen Austausch einzutreten, gebührt den beiden Autoren des Buches Mythos Anarchokapitalismus, Helmut Krebs und Michael von Prollius, große Anerkennung. Das erscheint ja fast wie eine Don Quijoterie.

Ihr Anliegen ist klar formuliert. Sie wollen den Anarchokapitalismus als das „entlarven, was er ist: ein gefährlicher Mythos.“ Ich möchte mit diesem Kommentar ihrer Aufforderung folgen und die vorgebrachte Kritik entkräften, hoffentlich in bereichernder Art und Weise. Dabei geht es mir nicht in erster Linie darum, anarchokapitalistische gegenüber klassisch liberalen Ideen zu verteidigen. Das Buch bietet genug Anlass zur Kritik, ohne dass man sich für eines der beiden Lager entscheiden müsste.

Krebs und von Prollius stellen natürlich klar, dass die Beobachtungen aus den obigen Zitaten nicht „für alle Anarchokapitalisten zutreffen, zumal sich nicht alle als solche bezeichnen.“ Das ist ein sehr nettes Zugeständnis, denn es gibt jedem Leser, der sich angesprochen fühlen könnte, zumindest die Option, sich als Teil der Ausnahme zu betrachten, die die Regel bestätigt. Tatsächlich haben Anarchokapitalisten, ob sie sich nun direkt als solche bezeichnen, oder nicht, kein Monopol auf schlechte Diskussionskultur, was nicht zuletzt durch das zu besprechende Buch selbst belegt wird. Es ist völlig klar, dass sich in jeder größeren Gruppe von Menschen auch Unsympathen befinden – seien es Konservative, Katholiken, Moslems, Linksprogressive, Marxisten, Fußballfans, klassisch Liberale oder eben Anarchisten.

Dass man nun gleich in der Einleitung zu einer Analyse und Kritik des Anarchokapitalismus darauf aufmerksam macht, dass es Unsympathen unter den Anarchokapitalisten gibt, dass man ferner behauptet, dass diese bis auf ein paar Ausnahmen repräsentativ für die ganze Gruppe seien, verhindert im schlimmsten Fall jede sachliche Auseinandersetzung mit dem Thema und ist im besten Fall einer solchen nicht zuträglich. In jedem Fall aber sind individuelle Sympathien und Antipathien völlig unerheblich für die zu klärenden Fragen und Probleme, und manchem Leser wird der schamlose Rückgriff auf diese Einschätzungen hoffentlich als schlechter Stil auffallen. Die Autoren bemühen sich hier nämlich einer sehr weit verbreiteten Diffamierungsmethode, die man etwa aus den öffentlichen Hauptstrommedien kennt, wenn es darum geht, bestimmte Meinungen von vornherein salonunfähig zu machen, ohne sich wirklich mit ihnen auseinanderzusetzen.

Ähnliche Taktiken werden auch an anderen Stellen des Buches deutlich, in denen zum Beispiel mit den Schlagwörtern „Verschwörungstheorie“ und „Extremismus“ gearbeitet wird – Begrifflichkeiten, die die Autoren meinen, nicht weiter erklären zu müssen. So erhebt Helmut Krebs im Kapitel Die unüberbrückbaren Gegensätze von Anarchismus und Liberalismus[1] folgende Anklage: „Die Sichtweisen prägen die Bilder der Zeitgeschichte und verzerren sie. Wo der Staat in allen Formen der Feind ist, muss er so stark wie möglich geschädigt werden. Daher richtet sich der Anarchismus konsequent am stärksten gegen den eigenen Staat. Er interpretiert alle seine politischen Aktivitäten negativ. Alle Maßnahmen dienen in seinen Augen der Befestigung und Ausweitung der Herrschaft. Dabei verirrt er sich bisweilen in wahnhafte Verschwörungstheorien.“

Es gibt gut und schlecht belegte, plausible und nicht plausible Theorien. Bestimmte Teile einer Theorie mögen der Wahrheit entsprechen, andere nicht. Um festzustellen, in welche Kategorie eine Theorie oder bestimmte Teilaspekte einer Theorie fallen, bedarf es mehr oder weniger anstrengender Prüfung und Nachforschung. Mit dem einfachen Vorwurf der Verschwörungstheorie wähnt man sich im Sicheren, denn solche Theorien sind ja vermeintlich sowieso kompletter Unfug und verdienen keine nähere Betrachtung. Nun sind sicherlich einige der sogenannten Verschwörungstheorien um die „Neue Weltordnung (NWO)“, auf die Krebs in einer Fußnote verweist, nicht gerade plausibel oder gar schwachsinnig, aber das gilt es nachzuweisen, wenn man sie denn für das zu behandelnde Thema als relevant erachten sollte. Selbstverständlich sind diese Theorien völlig unerheblich für die Klärung der Beziehung zwischen klassischem Liberalismus und Anarchokapitalismus. Der Verweis auf sie und die suggerierte Verbindung zur letzteren Denkrichtung dient hier lediglich ihrer Diffamierung und muss als ein Akt intellektueller Faulheit bewertet werden.

An anderer Stelle heißt es: „Demokratie sei ein „Wettbewerb der Gauner“ [einer bestimmten anarchistischen Denkrichtung zufolge]. Wir erinnern uns, dass die Extremisten der Weimarer Republik den Reichstag als Schwatzbude verhöhnten. Anarchismus ist eine extremistische Ideologie.“ Im Text lesen wir außerdem: „Um politische Mehrheiten zu gewinnen, müssten sie [die Anarchisten] am politischen Prozess teilnehmen. Diesen lehnen sie aber als Ausdruck von Herrschaft ab. Sie können die Zustände beklagen mehr nicht. Typisch ist ihr Rückzug in Sekten, ein Leben in Kommunen oder der Ausbruch zur action direct […], zur Zerstörung und zum Terror.“ Und außerdem: „Ihr Mangel an Strategie, ihre Fundamentalopposition in Verbindung mit der chronischen Verzweiflung an den als ungerecht empfundenen Verhältnissen erklärt die Neigung vieler Anarchisten zum Extremismus in Worten und Taten. Es ist kein Zufall, dass der politische Terrorismus ein Kind des Anarchismus ist.“

Das Etikett „Extremismus“ erfüllt einen ähnlichen Zweck wie die vermeintliche Nähe zu „Verschwörungstheorien“. Wann ist etwas extrem? Wenn es im besonderen Maße von einer bestimmten Norm abweicht, etwa der herrschenden Meinung in grundsatzpolitischen Fragen. Extremsein sagt aber nichts über die Art und Weise der Andersartigkeit, außer dass sie als stark empfunden wird. Um einer extremen Ansicht gerecht zu werden, reicht es daher nicht, sie nur als extrem oder extremistisch zu charakterisieren und ausgewählte Schlussfolgerungen im Lichte der herrschenden Meinung zu betrachten. Es ist eine Darlegung der Argumente erforderlich, die zu der genannten Schlussfolgerung veranlasst haben. In diesem konkreten Fall etwa wurde kein einziges Argument der Hoppe’schen Demokratiekritik beleuchtet, geschweige denn entkräftet. Der Leser wird einfach nur mit der etwas reißerischen Schlussfolgerung konfrontiert, dass es sich bei Demokratie um einen „Wettbewerb der Gauner“ handele. Jeder Freund der Demokratie kann den Autoren nun eifrig Beifall klatschen, wenn sie diese Position als extrem bezeichnen, und braucht keine seiner Ansichten in Frage zu stellen. Das ist sehr bequem.

Besonders scheinheilig wird die Diskussion allerdings, wenn man sich anschickt, die schlechten Seiten oder gar die Verbrechen eines anderen Extremismus mit der eigentlich zu kritisierenden Denkrichtung in Verbindung zu bringen, um diese zu diskreditieren. Entkräften die Extremisten der Weimarer Republik in irgendeiner Form Hoppes Demokratiekritik?[2] Entkräftet der politische Terror einiger Anarchisten die Philosophien des Anarchokapitalismus? Mitnichten! Krebs schreibt zwar: „Bakunin […] hielt revolutionäre Gewalt auch gegen liberale Regierungen für gerechtfertigt. Geheimpolizei unterwanderte ihre Reihen und lenkte sie. Ihre Gewaltexzesse brachten den inneren Frieden immer wieder in Gefahr und damit auch den Bestand des Rechtsstaates. […] Auch wenn wir den Anarchokapitalisten die Verbrechen ihrer Glaubensgenossen nicht anlasten dürfen, so muss doch festgestellt werden, dass sie gleicherweise Hass und Verachtung gegen die Demokratie verbreiten.“

Aber das ist etwa so, als wenn ich in einer Kritik der klassisch liberalen Position der Autoren folgendes Vorgehen wählte: Anstatt ihre Position einzugrenzen und im Detail zu beschreiben, beginne ich mit der Feststellung, dass Krebs und von Prollius Etatisten sind (im weitesten Sinne), denn sie halten den Staat für eine wichtige Institution, die es zu schützen gilt. Dann erzähle ich dem Publikum etwas über die unsäglichen Verbrechen ausgemachter Etatisten in der Menschheitsgeschichte, um dann großzügig mit einem schelmischen Zwinkern einzugestehen: „Wir dürfen Krebs und von Prollius natürlich nicht die Verbrechen ihrer Glaubensgenossen Mao, Stalin, Hitler und Mobutu Sese Seko anlasten. Aber letztlich muss festgestellt werden, dass sie genauso die Institution des Staates verteidigen.“ Man würde das zu Recht als einen unsachlichen Beitrag abtun.[3]

In beiden Fällen wird die Gruppe von Menschen, deren Philosophien es zu kritisieren gilt, absichtlich ausgeweitet bis zu dem Punkt, an dem man Menschen dazu zählen kann, deren Ansichten offensichtlich auf Abneigung stoßen. Dabei verwischt man mutwillig oder unwissentlich die entscheidenden Unterschiede innerhalb der sehr weit gefassten Gruppe und kann die Missetaten des einen Teils mit der zu kritisierenden Untergruppe assoziieren.

Der Anarchismus Bakunins unterscheidet sich grundsätzlich von dem der Anarchokapitalisten, so wie sich der Etatismus der beiden Autoren grundsätzlich von dem manch anderer Individuen unterscheidet, auch wenn es in beiden Fällen Schnittmengen gibt. Bakunin hat keine ausgearbeitete Rechtstheorie anbieten können, nach der es möglich gewesen wäre zwischen rechtmäßiger und unrechtmäßiger Gewalt zu unterscheiden.[4] Ein sehr unverhältnismäßiger Aktionismus, den man als politischen Terror bezeichnen kann, war die Folge. Rothbard hat genau an diesem Punkt angesetzt und versucht, eine objektive Ethik zu begründen, und er hat unter anderem auch verstärkt Theorien über die Verhältnismäßigkeit von Gewaltanwendung zur Verteidigung angeboten. Hoppe hat eine neue Letztbegründung der Rothbard’schen Ethik gewagt.[5] Diese Theorien kann man kritisieren, muss sich aber natürlich dazu mit ihnen auseinandersetzen. Im Übrigen werden diese Ideen selbst von anderen Anarchokapitalisten vehement kritisiert.[6]

Es ist erstaunlich, wie die Autoren zu der Schlussfolgerung gelangen können, dass „[e]ine „Ethik der Freiheit“ […] eine unordentliche Idee“ sei, ohne auch nur an einer einzigen Stelle des Buches auf das gleichnamige Werk von Rothbard einzugehen. Sie zitieren auch keine seiner anderen Schriften.

Freilich stellen sich die Autoren auf den Standpunkt des Utilitarismus und teilen die Auffassung, dass es keine objektiv begründbaren ethischen Grundsätze geben könne. Damit sind sie in guter Gesellschaft. Auch Ludwig von Mises teilte diese Auffassung. Rothbard und Hoppe lehnen sie ab. Letztlich setzt nämlich jede für richtig befundene politische Ordnung Werturteile voraus. Wie kann man aber von der Richtigkeit überzeugt sein, wenn es sich bei den zugrunde liegenden Werturteilen nur um subjektive Empfindungen handelt?

Helmut Krebs schreibt: „Recht wird utilitaristisch begründet, d.h. von der Aufgabe her, den inneren Frieden zu stiften. In einer liberalen Rechtsordnung wird die Ethik, d.h. die Morallehre, der Privatsphäre zugeordnet, damit individuelle Freiheit aller blühen kann. Morallehren sind Wertsysteme, Werte bleiben aber subjektiv und nicht rational verhandelbar. […] Rechte sind hingegen universalisierbar, nützlich und können – ja müssen daher rational verhandelbar sein.“ An dieser Stelle wäre es interessant gewesen, den utilitaristischen Ansatz gegen Hoppes Ansatz zu verteidigen. Letzterer versucht in einem recht anspruchsvollen Argument, die Existenz objektiv und rational begründbarer Grundsätze der Ethik zu prüfen.[7] Angesichts der Verweigerung, sich mit diesem und anderen Argumenten dezidiert auseinanderzusetzen, erscheint der Vorwurf der „simplifizierenden Analyse“ bei Anarchokapitalisten, der an anderer Stelle im Buch erhoben wird, geradezu ironisch. Stattdessen brüstet man sich selbstgefällig und zufrieden mit der „ausgewogenen“ und „differenzierenden“ Analyse in der Tradition des klassischen Liberalismus. Diese möchte ich gar nicht abstreiten. Wer allerdings nur an der Oberfläche der Philosophien des Anarchokapitalismus kratzt, dem wird ihre Komplexität verborgen bleiben.

Das führt uns zu einem weiteren sehr schwerwiegenden Defizit der Analyse. Sie haben vielleicht bereits gemerkt, dass ich im Plural, also von Philosophien des Anarchokapitalismus, geschrieben habe. Tatsächlich gibt es innerhalb dieser Tradition grundverschiedene Ansätze, ähnlich wie im klassischen Liberalismus. Die Autoren bemerken in der Einleitung ihres Buches, dass es hilfreich wäre, die Anhänger des neuen Schreckgespenstes in verschiedene Gruppen einzuteilen, um einen besseren Überblick zu gewinnen. Leider Gottes bieten sie dem Leser keine systematische Einteilung an. Sie versuchen nicht einmal einen groben Blick auf die verschiedenen Ansätze innerhalb dieser doch recht vielschichtigen und heterogenen Ideenlandschaft zu werfen. Eine grobe Einteilung hätte etwa wie folgt aussehen können:[8]

  • Utilitaristischer Anarchokapitalismus: Der wichtigste Vertreter dieses Ansatzes ist zweifelsohne David D. Friedman, Sohn des Nobelpreisträgers Milton Friedman. Sein Hauptwerk Machinery of Freedom stellt ein zweckorientiertes Argument für radikalen und staatsfreien Kapitalismus vor. Ein solches System ist Friedman zufolge erstrebenswert, weil es wünschenswerte Konsequenzen habe, und im Übrigen Frieden stifte.
  • Naturrechtlich inspirierter Anarchokapitalismus: Die beiden wichtigsten Vertreter dieses Ansatzes sind Murray N. Rothbard und Hans-Hermann Hoppe. Ihren rationalen Ansatz haben wir bereits oben erwähnt. Sie formulieren Argumente einer ganz anderen Art als Friedman.
  • Alternative Ansätze des Anarchokapitalismus: Hier kann man verschiedene Ansätze nennen, etwa den empirisch historischen Ansatz eines Bruce Brenson (The Enterprise of Law), oder Morris und Linda Tannehill (The Market for Liberty), die Ayn Rands Argument für den Staat in ein Argument gegen den Staat verkehren. Auch Michael Huemer (The Problem of Political Authority) und sein skeptizistischer Ansatz sind erwähnenswert.

In dem Buch werden lediglich einige der Ideen von Michael Huemer und Gustave de Molinari direkt und explizit besprochen und kritisiert. Ob diese Kritiken erfolgreich sind, soll hier aus Platzgründen nicht weiter diskutiert werden. Es ist aber festzuhalten, dass man mit der Fokussierung auf Molinari und Huemer in keinster Weise dem Spektrum des Anarchokapitalismus gerecht wird. Wenn man sich etwa wie die Autoren auf den utilitaristischen Standpunkt stellt, so wäre eine Auseinandersetzung mit David D. Friedman sehr viel zweckdienlicher gewesen. Er entwickelt vom selben Standpunkt aus Argumente für eine staatenlose Gesellschaft. David Friedman, der Anarchokapitalist, hat sehr anschaulich den Unterschied seiner Ansichten zu denen seines Vaters Milton, dem klassisch liberalen, beschrieben: „Ich glaube, dass mein Vater der Meinung war, dass die Institutionen, die ich beschreibe, funktionieren könnten, aber es wahrscheinlich nicht würden. Ich hingegen glaube, dass sie eventuell nicht funktionieren könnten, aber es wahrscheinlich würden. Es gab also nicht wirklich eine scharfe Trennlinie.“[9]

Ich glaube gerade das ist ein interessanter Punkt, über den man streiten kann: Sind die vorgeschlagenen Institutionen (private Gerichte, Polizei, Verteidigung, etc.) praktikabel? Ich persönlich würde sagen, zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind sie es nicht. Die Institutionen und die Kultur, die es bräuchte, um eine libertäre Privatrechtsgesellschaft entstehen zu lassen, können nur über die Zeit wachsen. Dies trifft genauso auf die Institutionen und die Kultur einer klassisch liberalen Gesellschaft zu. Wenn man also aufgrund der gegenwärtig mangelhaften Praktikabilität den Anarchokapitalismus als Utopie bezeichnet, kann man auch bestimmte klassisch liberale Gesellschaftskonzeptionen als Utopien abstempeln. Deren unmittelbare Durchsetzung wäre genauso mit erheblichen Problemen verbunden. Beides sind dennoch keine Utopien, sondern Ideologien, oder um es etwas harmloser klingen zu lassen: Idealvorstellungen, deren Praktikabilität von nichts weiter abhängt als den Ideen und Wertvorstellungen der Menschen. Angesichts des überbordenden Etatismus unserer Zeit können anarchokapitalistische und klassisch liberale Ideen gleichermaßen einen Gegenimpuls setzen. Die klassisch liberale und die anarchokapitalistische Bewegung sind in erster Linie Versuche der Kommunikation von Ideen und der Inspiration.

Auch der im Buch immer wiederkehrende Vorwurf der politischen Untätigkeit von Anarchokapitalisten ist haltlos. Es stimmt zwar, dass einige das Wählen von politischen Parteien und politisches Engagement prinzipiell ablehnen, aber das ist ihr gutes Recht, selbst im gegenwärtigen System. Ich würde sagen, Nichteinmischung in die Politik hat noch niemandem geschadet. Tatsächlich sind aber viele (relativ zur geringen Anzahl, die es gibt) der Anarchokapitalisten politisch aktiv, mehr in den USA als in Europa.[10] Aber auch auf unserem Kontinent gibt es löbliche Versuche. Dass diese nicht immer zu den gewünschten Ergebnissen führen, unterstützt aber in keinster Weise die Behauptungen der Autoren, dass Anarchokapitalisten nicht auch kleine Schritte in die richtige Richtung als positiv bewerten könnten.

Die Autoren haben ein vorgefertigtes Bild des typischen Anarchokapitalisten vor Augen, das sich möglicherweise aus unangenehmen persönlichen Begegnungen und Erfahrungen speist. Eindeutig mögen sie den Durchschnittsanarcho nicht besonders. Statt einer sachlichen Systematisierung, wie ich sie oben vorgeschlagen habe, bieten uns Krebs und von Prollius folgende Gruppierung an: Anarchokapitalisten sind 1.) oftmals „junge Menschen“, die von der „Klarheit und Kompromisslosigkeit anarchokapitalistischer Prinzipien“ fasziniert sind. 2.) „Einer weiteren Gruppe lässt sich das Etikett Utopie aufprägen. Naiv wäre als Bezeichnung auch treffend. Altersunabhängig handelt es sich um Menschen, die zuweilen weltfremd sind, …“. 3.) „Schließlich gibt es eine Gruppe führender Anarchokapitalisten, die unbewusst oder bewusst Vertreter des Feudalismus sind. Hinter der Prämisse unbeschränkter Freiheit für jedermann, ungestört durch Recht, Gewalt und Herrschaft, verbergen sich Rudimente gesellschaftlicher Neuordnungen, die zurück in die Vergangenheit weisen. Monarchie, Gottesglaube, Gewaltunternehmer und segregierte Lebensweisen stehen der liberalen-offenen, pluralistischen – Gesellschaft entgegen.“

Aus Sicht der Autoren sind Anarchokapitalisten also im Wesentlichen entweder jung und unwissend, naiv und weltfremd, oder böswillig. Wenn man so an die Sache herangeht, ist nicht viel wohlwollende Verständnisbemühung zu erwarten. Besonders interessant ist von Prollius’ Schlusswort: „Diejenigen, die unbedarft und unreflektiert den Hoppe’schen und Rothbard’schen Katechismus nachbeten, haben nun die Möglichkeit, eine andere Perspektive zu lesen.“ Ging es in dem Buch darum, die Lehren dieser beiden Autoren zu kritisieren? Der Leser mit Vorkenntnis wird kaum um diese Vermutung herumkommen. Der Leser ohne Vorkenntnis weiß am Ende auf jeden Fall, dass Hoppe und Rothbard mit Vorsicht zu genießen sind. Wahrscheinlich sind das die Typen, die zur feudalen Ständeordnung und zur Monarchie zurück wollen, und in ihrer Freizeit Bomben basteln.

Das Buch liefert aber keine systematische Behandlung und Kritik des „Hoppe’schen und Rothbard’schen Katechismus“. Und selbst wenn eine solche vorgetragen worden wäre, hätte das nicht ausgereicht, um die These des Buches zu stützen, dass der Anarchokapitalismus ein gefährlicher Mythos sei, weil es nämlich ganz unterschiedliche Ansätze innerhalb dieser Denkrichtung gibt. Rothbard und Hoppe bieten nur eine Variante. Angesichts der unterschiedlichen Alternativansätze könnte man fast auf die Idee kommen, dass der Anarchokapitalismus eine offene und pluralistische Bewegung sei, ja geradezu liberal.

Es bleibt festzuhalten, dass die Absicht der Autoren durch ihre Schrift keineswegs in die Tat umgesetzt wurde. Wir sind bei der unbefangenen und sachlichen Auseinandersetzung mit dem Anarchokapitalismus durch das Buch Mythos Anarchokapitalismus keinen Schritt weiter gekommen. Dennoch würde ich nicht so weit gehen und das Buch der beiden Autoren, um mit Angela Merkel zu sprechen, als „nicht hilfreich“ bezeichnen. Letztlich ist ja jede Kritik, ob gut oder schlecht, auf gewisse Weise hilfreich. Das erhoffe ich mir jedenfalls auch von dieser.

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[1] Auch online nachzulesen unter http://www.forum-freie-gesellschaft.de/die-unueberbrueckbaren-gegensaetze-von-anarchismus-und-liberalismus/

[2] Verstehen Sie mich nicht falsch. Es erscheint mir nicht metaphysisch unmöglich zu sein Hoppes Demokratiekritik anzugreifen. Aber Helmut Krebs macht es auf äußert plumpe Art und Weise. Er bemüht sich nicht darum auch nur einen der Gedankengänge aus Der Wettbewerb der Gauner aufzugreifen. Das sehr viel systematischere Werk Demokratie. Der Gott, der keiner ist findet nicht einmal Erwähnung.

[3] Manchmal findet man genau diese polemische Art der Argumentation bei Anarchokapitalisten, und auch dann ist sie aus den gleichen Gründen zu kritisieren. So etwas kann je nach Geschmack zum Amüsement beitragen und hat somit auch eine wichtige Funktion, wird aber vermutlich bei der Gegenpartei auf großen Widerwillen und Argwohn stoßen, und damit die sachliche Diskussion nicht vorantreiben. Ein bekanntes Beispiel für eine solche rhetorische Spitze ist der alte Witz, dass zwischen einem Minarchisten und einem Anarchisten nur 6 Monate lägen, wahlweise „eine halbe Stunde intensiven, vorurteilsfreien Nachdenkens.“ Siehe Quelle aus der folgenden Fußnote.

[4] Siehe dazu ein kürzlich veröffentlichtes Interview mit Hans-Hermann Hoppe: http://www.misesde.org/?p=11912. Siehe außerdem Stefan Blankertzs Rezension des Buches, in der die unterschieddlichen Wurzeln der zusammengeworfenen Bewegungen sehr deutlich werden: http://www.forum-freie-gesellschaft.de/mythos-anarchokapitalismus-kritisch-rezensiert/.

[5] Siehe insbesondere Rothbards Ethik der Freiheit und Hoppes A Theory of Socialism and Capitalism, Kapitel 7.

[6] Siehe etwa die Kritik von Murphy und Callahan: https://mises.org/sites/default/files/20_2_3.pdf, oder die zahlreichen Referenzen, die Marian Eabrasu in seiner Diskussion der Hoppe’schen Argumentationethik erwähnt: http://libertarianpapers.org/article/20-eabrasu-critiques-argumentation-ethics/

[7] Siehe erneut A Theory of Socialism and Capitalism, Kapitel 7, SS. 151-154. Das Argument ist strukturell sehr ähnlich zur Hoppes Begründung einer rationalen Epistemologie für die Wirtschaftswissenschaften als einer a priori Wissenschaft (im Gegensatz zu einem empirischen Ansatz). Diese kann der interessierte Leser im gleichen Werk finden (Kapitel 6).

[8] Siehe auch die Einteilung, die Hoppe vorgeschlagen hat: https://www.lewrockwell.com/2001/12/hans-hermann-hoppe/anarcho-capitalism-2/

[9] Siehe folgendes Interview: https://www.youtube.com/watch?v=S4CcannofnY. Friedman stellt darin außerdem eine sehr interessante Frage: „Die Minimalstaatler haben meiner Meinung nach ein Problem. Sie denken, dass der Staat nicht kompetent genug wäre, um Nahrung und Fahrzeuge herzustellen. Deshalb sollte sich der private Sektor darum kümmern. Wieso glauben sie dann aber, dass der Staat kompetent genug wäre, für Recht und Ordnung zu sorgen? Ist das etwa eine einfachere Aufgabe als Nahrung und Fahrzeuge zu produzieren?“ In der Regel wird so ein Einwand eben mit dem Vorwurf der Simplizität abgeschmettert. Aber auch einfache Fragen haben meiner Meinung nach ihre Berechtigung.

[10] Das Paradebeispiel ist natürlich Ron Paul, Präsidentschaftskandidat der Republikaner in den Jahren 2008 und 2012. Sicher war er mit seinen Ansichten nicht mehrheitsfähig, aber dennoch hat er mit seiner Botschaft zahlreiche Menschen erreicht. Weit mehr als die Hälfte der Studenten, die ich im letzten Sommer am amerikanischen Mises Institute zur Mises University getroffen habe, sind über Ron Paul auf den Libertarismus und die Österreichische Schule aufmerksam geworden und beschäftigen sich jetzt mit diesen Ideen. Der Verweis der Autoren auf seinen Sohn Rand Paul, der sich selbst als „Reagan Conservative“ bezeichnet hat, ist unpassend und zeugt von mangelnder Recherche. Diese Positionierung hat ihn viel Zustimmung unter den Wählern seines Vaters gekostet. Er spielt dennoch eine gewichtige Rolle (unter Libertären), weil er von vielen als die beste zur Verfügung stehende Alternative gesehen wird. Anarchokapitalisten machen sich nämlich sehr wohl auch Gedanken darüber was unter den gegebenen Umständen die beste Alternative sein könnte. Murray Rothbard war nicht nur akademischer Ökonom und Philosoph, sondern auch politischer Aktivist, und wohlgemerkt kein Terrorist. Er hat etwa die Libertäre Partei in den USA mitgegründet.

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Karl-Friedrich Israel, 27, hat Volkswirtschaftslehre, Angewandte Mathematik und Statistik an der Humboldt-Universität zu Berlin, der ENSAE ParisTech und der Universität Oxford studiert. Zur Zeit absolviert er ein Doktorstudium an der Universität Angers in Frankreich.

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