„Theorie und Geschichte“: Mises’ großartiges Spätwerk, in dem er die Folgen falscher Wissenschaftlichkeit für unsere Freiheit offenlegt

23.11.2015 – von Murray N. Rothbard.

[Vorwort zu Ludwig von Mises’ „Theorie und Geschichte“.]

Murray N. Rothbard (1926 – 1995)

Ludwig von Mises veröffentlichte viele Bücher und Artikel in seinem langen produktiven Leben, die alle wichtige Beiträge zur Theorie und zur Anwendung der Wirtschaftswissenschaft lieferten. Aber es ragen vier Meisterwerke aus ihnen hervor, unsterbliche Denkmale des Werks des größten Ökonomen und Theoretikers des menschlichen Handelns unsres Jahrhunderts. Das erste, das Mises den vordersten Rang der Nationalökonomen sicherte, war die Theorie des Geldes und der Umlaufsmittel (1912), welches zum ersten Mal die Geldtheorie und die Theorie der relativen Preise zusammenführte und seine spätere Konjunkturtheorie umriss. Mises’ zweites Großwerk war Die Gemeinwirtschaft (1922), welche die endgültige, umfassende Kritik des Sozialismus lieferte und aufzeigte, dass die sozialistische Wirtschaft nicht ökonomisch rechnen kann. Das dritte war die gewaltige Untersuchung Human Action (1949) [basierend auf: Nationalökonomie – Theorie des menschlichen Handelns und Wirtschaftens (1940), Anm. d. Ü.], welches eine Gesamtstruktur der Wirtschaft und des menschlichen Handelns ausbreitete. Alle drei Werke haben in der Wirtschaftswissenschaft ihren Ruf und trugen zur Wiederbelebung der „Austrians“ bei, welche in den Vereinigten Staaten im vergangenen Jahrzehnt aufblühten.

Aber Mises viertes und letztes großes Werk, Theory and History (1957), hat eine merkwürdig geringe Wirkung, und wurde sogar von den jungen Ökonomen des jüngsten Austrian Revivals selten zitiert. Es bleibt mit Abstand das meist-vernachlässigte Meisterwerk Mises. Und doch liefert es die philosophische Verteidigungslinie und die Ausarbeitung der Human Action unterstützenden Philosophie. Es ist Mises‘ großes methodologisches Werk, erklärt Mises‘ Zugang zur Nationalökonomie und liefert uns brillante Kritiken solch fehlerhafter Alternativen wie Historismus, Szientismus und des marxistischen dialektischen Materialismus.

Man könnte denken, dass Theory and History sich trotz seiner großen Wichtigkeit keinen Namen gemacht hat, weil in dieser Epoche blinder akademischer Spezialisierung die Wirtschaftswissenschaften nichts zu tun haben möchten mit etwas, das nach Philosophie schmeckt. Gewiss, Über-Spezialisierung spielt eine Rolle, doch in den letzten Jahren blühte das Interesse an Methodologie und Untermauerung der Wirtschaftswissenschaft auf, und man sollte meinen, dass wenigstens die Spezialisten dieses Gebiets in diesem Buch viel zu diskutieren und aufzunehmen fänden. Und der Fachjargon und das verworrene Schreiben der Wirtschaftswissenschaftler sind sicherlich nicht so weit gediehen, dass es daran scheitern würde, auf Mises‘ klare und funkelnde Prosa zu antworten.

Stattdessen ist es wahrscheinlich, dass die Missachtung von Theory and History mehr mit seiner philosophischen Botschaft zu tun hat. Während viele Menschen von dem langen Kampf, den Ludwig von Mises gegen Dirigismus und für Laissez-faire kämpfte, wissen, bemerken wenige, dass weit größerer Widerstand der Wirtschaftswissenschaften gegen Mises‘ Methodologie besteht als gegen seine Politologie. Es ist nach allem unter den Ökonomen nicht ungewöhnlich, Anhänger des freien Marktes zu sein (obgleich nicht mit Mises‘ treffsicherer Folgerichtigkeit), aber wenige sind bereit, die charakteristische Österreichische Methode anzunehmen, die Mises systematisierte und „Praxeologie“ nannte.

Ludwig von Mises (1881 – 1973)

Im Kern von Mises und der Praxeologie liegt das Konzept, mit welchem richtigerweise Theory and History beginnt: der methodologische Dualismus, die entscheidende Einsicht, dass menschliches Sein in einer Weise und mit einer Methodologie betrachtet und analysiert werden muss, die sich gründlich unterscheidet von der Analyse von Steinen, Planeten oder Molekülen. Warum? Ganz einfach, weil es das Wesen menschlichen Seins ist, dass wir handeln, dass wir Ziele und Absichten haben, und dass wir versuchen diese Ziele zu erreichen. Steine, Atome, Planeten haben keine Ziele oder Vorlieben; daher wählen sie nicht zwischen alternativen Handlungsweisen. Atome oder Planeten bewegen sich oder werden bewegt; sie können nicht wählen, Handlungsweisen auswählen oder ihre Ansichten ändern. Männer und Frauen können das und tun es. Darum können Atome und Steine untersucht, ihre Bewegungen kartiert, ihre Wege aufgezeichnet und vorhergesagt werden, wenigstens im Prinzip, bis zum kleinsten quantitativen Detail. Menschen nicht; Menschen lernen jeden Tag, übernehmen neue Werte und Ziele und ändern ihre Meinung; Menschen können nicht festgelegt und vorhergesagt werden wie Objekte ohne Verstand und ohne die Fähigkeit zu lernen und zu wählen.

Und nun können wir sehen, warum der Berufsstand der Ökonomen einen solch massiven Widerstand gegen die grundlegenden Denkansätze von Ludwig von Mises setzt. Denn Wirtschaftswissenschaftler haben, wie andere Sozialwissenschaftler, den Mythos angenommen, den Mises genau und höhnisch als „Szientismus“ ausweist – die Idee, dass der wahre wissenschaftliche Denkansatz in der Erforschung des Menschen sei, die Naturwissenschaften nachzuäffen, insbesondere die seines prominentesten Armes, der Physik. Um wahrhaftig „wissenschaftlich“ zu werden wie Physik oder die anderen Naturwissenschaften, muss die Wirtschaftswissenschaft solche Konzepte meiden wie Vorlieben, Ziele und Lernen; sie muss das menschliche Denken weglassen und nur über bloße Geschehnisse schreiben. Sie darf nicht über Meinungsänderung sprechen, weil sie behaupten muss, dass Geschehnisse vorhersagbar sind, seit das Motto der economic society wörtlich lautet „Wissenschaft ist Voraussage“. Und um eine „harte“ und „wirkliche“ Wissenschaft zu werden, darf die Wirtschaftswissenschaft Individuen nicht als einzigartige Geschöpfe mit jeweils eigenen Zielen und eigener Wahl behandeln, sondern als homogene und deshalb vorhersagbare Bits von Daten. Ein Grund, warum die orthodoxe volkswirtschaftliche Theorie mit dem wichtigen Konzept des Unternehmers immer große Schwierigkeiten hatte, besteht darin, dass jeder Unternehmer klar und offensichtlich einzigartig ist; und die neoklassische Wirtschaftswissenschaft kann mit individueller Einzigartigkeit nicht umgehen.

Weiterhin wird behauptet, „wirkliche“ Wissenschaft müsse wie eine Variante des Positivismus arbeiten. Ihm zufolge, in der Physik, ist der Wissenschaftler mit einer Zahl gleichartiger, einförmiger Ereignisdaten konfrontiert, welche nach quantitativen Regelmäßigkeiten und Konstanten untersucht werden können, z. B. der Beschleunigung, mit der Gegenstände zur Erde fallen. Dann bildet der Wissenschaftler Hypothesen, um die Verhaltensklassen oder Bewegungen zu erklären, und dann leitet er verschiedene Aussagen ab, nach denen er die Theorie „überprüfen“ kann, indem er sie an harten, empirischen Tatbestände, beobachtbaren Geschehnisse kontrolliert. (So kann die Relativitätstheorie überprüft werden, indem gewisse empirische beobachtbare Eigenschaften einer Eklipse getestet werden.) In der alt-positivistischen Variante „verifiziert“ er die Theorie mit dieser empirischen Überprüfung; im nihilistischeren Neopositivismus Karl Poppers, kann er eine Theorie auf diese Weise nur „falsifizieren“ oder „nicht falsifizieren“. In jedem Fall müssen seine Theorien als vorläufig betrachtet und können niemals, jedenfalls nicht offiziell, als für definitiv wahr gehalten werden; weil er immer herausfinden könnte, dass andere, alternative Theorien größere Klassen von Tatbestände erklären, dass einige neue Tatbestände dagegen sprechen oder die Theorie falsifizieren könnten. Der Wissenschaftler muss immer wenigstens die Maske der Bescheidenheit und Aufgeschlossenheit tragen.

Es war ein Teil von Mises‘ Genialität zu erkennen, dass solide Wirtschaftswissenschaft auf diesem Weg niemals vorangekommen wäre, und die guten Gründe dieser merkwürdigen Tatsache auszuarbeiten. Es gab eine Menge unnötiger Verwirrungen über Mises‘ ziemlich eigenwillige Verwendung des Begriffs a priori, und die Liebhaber der modernen szientistischen Methoden konnten ihn als einen bloß unwissenschaftlichen Mystiker ablehnen. Mises sah, dass die Studenten des menschlichen Handelns einerseits in einer besseren, andererseits in einer schlechteren, sicherlich in einer anderen Lage waren als die Studenten der Naturwissenschaften. Der Naturwissenschaftler beobachtet eine gleichförmige Zahl von Ereignissen und tastet sich voran, indem er erklärende oder kausale Theorien für diese empirischen Ereignisse findet und überprüft. Aber in der menschlichen Geschichte sind wir, selbst menschliche Wesen, in der Lage, die Gründe der Geschehnisse schon zu wissen; namentlich die ursprüngliche Tatsache, dass menschliche Wesen Ziele und Absichten verfolgen und handeln, um sie zu erreichen. Und diese Tatsache ist bekannt, nicht möglicherweise und vorläufig, sondern absolut und apodiktisch.

Ein Beispiel, das Mises in seiner Klasse gerne gebrauchte, um den Unterschied zwischen zwei fundamentalen Wegen der Erklärung menschliches Verhaltens aufzuzeigen, war, das Verhalten im Grand Central Station während der rush hour zu beobachten. Der „objektive“ und „wahrhaft wissenschaftliche“ Behaviorist, den er aufspießte, würde die empirischen Geschehnisse beobachten: z. B. Menschen, die vor- und zurückeilen, ziellos zu gewissen vorhersagbaren Tageszeiten. Und das ist alles, was er wissen könnte. Aber der wahre Student menschlichen Handelns würde von der Tatsache ausgehen, dass menschliches Verhalten zweckorientiert ist, und er würde sehen, dass der Zweck ist, am Morgen von zu Hause aus zur Arbeit zu gehen, das Gegenteil in der Nacht usw. Es ist offensichtlich, wer von beiden mehr entdecken und wissen würde über menschliches Verhalten und deshalb, welcher der genuine „Wissenschaftler“ wäre.

Es liegt an diesem Axiom, an der Tatsache zielgerichteten menschlichen Handelns, dass jede Wirtschafts-Theorie deduktiv ist; die Ökonomie erforscht die logischen Implikationen der durchgängigen Tatsache des Handelns. Und seit wir absolut wissen, dass menschliches Handeln zielgerichtet ist, wissen wir mit gleicher Gewissheit die Schlussfolgerungen an jedem Glied der logischen Kette. Es ist nicht nötig, die Theorie zu testen, nicht wenn das Konzept in diesem Kontext sinnvoll ist.

Ist die Tatsache zielgerichteten menschlichen Handelns „veri­fi­zier­bar“? Ist sie „empirisch“? Ja, aber sicher nicht in der präzisen oder quantitativen Art, welche die Nachahmer der Naturwissenschaften es üblicherweise versuchen. Die Empirie ist breit und qualitativ, vom Wesen menschlicher Erfahrung stammend; sie hat nichts mit Statistik oder geschichtlichen Ereignissen zu tun. Zudem hängt sie von der Tatsache ab, dass wir alle menschliche Wesen sind, und kann deshalb dieses Wissen nutzen, um es auf andere Wesen derselben Art zu übertragen. Noch weniger ist das Axiom zielgerichteten Handelns „falsifizierbar“. Es ist so offensichtlich, wie schon bemerkt und erwogen, dass es deutlich das Mark unserer Erfahrung bildet.

Ebenso gilt, dass die Wirtschaftstheorie nicht „getestet“ werden muss, weil es unmöglich ist, auf irgendeine Art ihre Bedingungen gegen eine homogene gleichförmige Datenreihe von Ereignissen abzugleichen. Denn es gibt keine solchen Ereignisse. Der Gebrauch von Statistik und quantitativen Daten kann versuchen, diese Tatsache zu verstecken, aber ihre scheinbare Genauigkeit ist nur auf historischen Ereignissen gegründet, die in keiner Weise gleichförmig sind. Jedes geschichtliche Ereignis ist ein komplexes, einmaliges Ergebnis von vielen kausalen Faktoren. Weil es einmalig ist, kann es nicht für einen positivistischen Test gebraucht werden, und weil es einmalig ist, kann es nicht mit anderen Geschehnissen in Form statistischer Korrelationen zusammen gebracht werden, um irgendein sinnvolles Ergebnis zu erzielen. Bei der Analyse eines Konjunkturzyklus zum Beispiel, ist es nicht erlaubt, jeden Zyklus genau gleich wie jeden anderen zu behandeln und auf diese Weise Daten zu addieren, zu multiplizieren, zu manipulieren und mit anderen zu korrelieren. Um zum Beispiel zwei Zeitserien auszumitteln und stolz zu verkünden, dass Serie X verglichen mit Serie Y an einigen Phasen des Zyklus einen vier Monate vorlaufenden Durchschnitt hat, bedeutet so viel wie nichts. Weil (a) keine besondere Zeitserie selbst einen Viermonatsvorlauf hat, und (b) der Durchschnitt irgendeiner Serie keine Bedeutung für die Daten der Zukunft hat, die ihre eigenen letztgültigen unvorhersagbaren Unterschiede zu allen vorhergehenden Zyklen aufweisen.

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Indem er den Versuch, Statistiken zur Bildung oder Überprüfung von Theorien einzusetzen, zerlegte, wurde Ludwig von Mises als ein reiner Theoretiker angesehen, ohne Interesse oder Respekt für die Geschichte. Im Gegenteil, und das ist das Kernthema von Theorie und Geschichte, sind es die Positivisten und Behavioristen, denen es an Respekt für die einzigartigen geschichtlichen Tatbestände mangelt, indem sie versuchen, diese komplexen geschichtlichen Ereignisse in das Prokrustesbett der Bewegungsformen von Atomen und Planeten zu zwängen. Bei menschlichen Angelegenheiten muss das komplexe geschichtliche Ereignis selbst so weit wie möglich durch verschiedene Theorien erklärt werden; aber es kann niemals vollständig oder genau durch irgendeine Theorie determiniert sein. Die beschämende Tatsache, dass die Voraussagen von sogenannten ökonomischen Wahrsagern jedes Mal ein bodenloses Ergebnis zeitigten, besonders solche derjenigen, die eine quantitative Genauigkeit versprechen, begegnet uns in der Mainstream-Ökonomie beim Zwang, das Modell einmal mehr fein zu stimmen und es erneut zu versuchen. Es ist vor allem Ludwig von Mises, der die Freiheit, die Freiheit des Denkens und Wählens, als unveräußerlichen Kern menschlicher Verfassung begreift und der deshalb erkennt, dass der szientistische Zwang zum Determinismus und zu vollständiger Voraussagbarkeit eine Suche nach der Unmöglichkeit ist – und darum grundlegend unwissenschaftlich.

Unter einigen jüngeren Austrians führte die Unwilligkeit, die herrschende methodologische Orthodoxie herauszufordern, entweder zur gänzlichen Übernahme des Positivismus oder zur Vermeidung von Theorie überhaupt im Dienste eines unklaren empirischen Institutionalismus. Das Eintauchen in Theorie und Geschichte würde beiden Gruppen helfen zu erkennen, dass wahre Theorie von der realen Welt vom handelnden Menschen nicht geschieden ist, und dass man szientistische Mythen verbannen kann, während man weiterhin den Apparat deduktiver Theorie anwendet.

Die Österreichische Nationalökonomie wird sich einer ursprünglichen Renaissance nicht erfreuen, bis die Ökonomen die lebendigen Lehren dieses unglücklicherweise vernachlässigten Werkes lesen und aufnehmen werden. Ohne Praxeologie kann keine Nationalökonomie wahrhaft österreichisch oder stimmig sein.

Murray N. Rothbard, New York, 1985

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Murray N. Rothbard wurde 1926 in New York geboren, wo er an der dortigen Universität Schüler von Ludwig von Mises wurde. Rothbard, der 1962 in seinem Werk Man, Economy, and State die Misesianische Theorie noch einmal grundlegend zusammenfasste, hat selbst diese letzte Aufgabe, die Mises dem Staat zubilligt, einer mehr als kritischen Überprüfung unterzogen.

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Hinweis: Die Inhalte der Beiträge geben nicht notwendigerweise die Meinung des Ludwig von Mises Institut Deutschland wieder.

 

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